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Kirchgänger sind anders

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Neue Zulehner-Studie: Das gestörte Verhältnis von Kirche und Freiheit

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Neue Zulehner-Studie: Das gestörte Verhältnis von Kirche und Freiheit

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„Im Umkreis der kirchlichen Gemeinschaft haben das Leben, die Liebe und das Sterben eine größere, humanere Chance." Diese These stellte der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner am 19. März im Wiener Don-Bosco-Haus auf und untermauerte sie mit Untersuchungsergebnissen, die unter dem Titel „Was den Österreichern heilig ist" (Kurzbericht in FURCHE 12/1991) an jenem Abend vorgestellt wurden und interessanter sind als die zunächst geheime, durch Indiskretion bekanntgewordene Detailstudie zur Popularität der österreichischen Bischöfe (FURCHE 6/1991).

Daß heute alles personalisiert werde, damit müsse man leben, so lautete der trockene Kommentar von Wissenschaftsminister Erhard Busek - er sei als Politiker an solche Umfragen schon lange gewöhnt. Busek eröffnete die Präsentation erster Ergebnisse aus insgesamt drei Studien (Religion im Leben der Österreicher 1970-1990, Europäische Wertestudie - Österreichteil 1990, Österreichische Jugendstudie), an denen neben Zulehner federführend noch Hermann Denz, Martina Beham und Christian Friesl

beteiligt waren.

Leben wir auch im wesentlichen in einer „Post-Zeit" (postautoritär, postmaterialistisch, postsolidarisch, posttranszendent und postchristlich), so ist doch keineswegs das Ende von Religiosität gekommen, und man könne, so Zulehner, nicht nur „von der Not", sondern auch „vom Segen der Religion" sprechen. Die überwältigende Mehrheit im Land hält sich selbst für religiös, wobei zwei Spielarten von Religiosität festzustellen sind: eine mehr gottbezogene und eine mehr lebensbezogene. Der regelmäßige Kirchgang am Sonntag hat dabei weit mehr Aussagekraft, als man gemeinhin annimmt.

Die Studie unterscheidet vier Gruppen:

• Hochkirchliche (24 Prozent): praktizierende Christen mit starkem Gottes- und Lebensbezug ihres Glaubens.

• Hochreligiöse (28 Prozent): wenig praktizierend, aber doch mit starkem Gottes- und Lebensbezug.

• Kulturreligiöse (29 Prozent): wenig praktizierend, mit starkem Gottes-, aber geringem Lebensbezug ihres Glaubens.

• Unreligiöse (19 Prozent): fast nicht praktizierend, Gottes- und Lebensbezug schwach.

In diesen vier Typen spiegle sich, so Zulehner, möglicherweise das

Szenario des Verfalls von Religiosität: zuerst Kirchlichkeit, dann Übergang zur Einstellung „Religion ja - Kirche nein", schließlich kulturreligiös und zuletzt nichtreligiös, wobei in letzteren Gruppen die Bereitschaft zum Kirchenaustritt sehr hoch werde. Anderseits gebe es in diesen Gruppen auch je zehn Prozent Personen, die bereit seien, in die Kirche „hineinzuwandern", was die pastoraltheologische Frage aufwerfe, wie man diese Leute behandeln solle. Die massivste Störung in Beziehungen zur Kirche sei die Scheidung, Geschiedene seien eindeutig am wenigsten hochkirchlich.

Anhand der Antworten zu bestimmten Fragenbereichen (siehe Kasten) erläuterte Zulehner seine These, daß Leben, Liebe und Sterben von kirchlich gebundenen Menschen deutlich anders gesehen werden als von anderen. Dies zeige sich an der Einstellung zu Liebe, Treue und dauerhaften Beziehungen, zum Tod und zu Jenseitshoffnungen. Religion verbessere auch die „Balance zwischen Güter- und Lebensmoral": Der Mehrheit erscheint heute die Beschädigung eines Autos verwerflicher als Abtreibung oder Euthanasie, religiösen Menschen nicht, was, so Zulehner, nahelegt, daß man sich im Fall des Falles doch lieber einem katholischen als einem öffentlichen Spital anvertraut.

Zulehner wies auch darauf hin, daß unter religiösen Menschen im heutigen „postsolidarischen" Zeitalter (Schlagworte: „Jeder muß seine Probleme selbst lösen", „Der Hauptgrund für Not ist Faulheit") auch am meisten der Wert der Solidarität hochgehalten wird, nämlich von 62 Prozent. Unter den politischen Gruppen - Zulehner: „Wir haben das Wählervolk, nicht die Funktionäre untersucht" - lautet bezüglich Solidarität die Reihung: Grüne 52 Prozent, ÖVP 51 Prozent, FPÖ 41 Prozent, SPÖ 36 Prozent. Hier erhellt die Studie den Hintergrund mancher Politiker-Reaktionen auf seinerzeitige bischöfliche Aussagen zur Ausländer- und Asylantenproblematik.

Die Kirche bewahrt aber nicht nur in postsolidarischer Zeit Solidarität, sie hält auch in postautoritärer Zeit stärker am Autoritaris-mus fest als andere: Hochkirchliche zu 58 und Hochreligiöse zu 53 Prozent, dagegen Kulturreligiöse nur zu 36 und Unreligiöse gar nur zu 28 Prozent. „Warum vertrauen die Menschen lieber auf Autoritäten, Ordnungen und Gesetze als auf Gott?" fragt Paul Zulehner und weist auf den Wunsch nach Behei-matung, nach einem festen Halt hin.

Er sieht hier auch die Ursache für den klassischen Konfliktbereich „zwischen der autoritär wahrgenommen Kirche und den Medien, die ja ein typisches Element nichtautoritärer Gesellschaftsverhältnisse sind". Die Studie hat aber ergeben, daß die Menschen heute auch den Zeitungen und anderen „politischen" Einrichtungen (etwa der Rechtssprechung, der Polizei, politischen Gremien) sehr wenig Vertrauen schenken, am meisten hingegen „alternativen" Einrichtungen (Menschenrechts-, Friedensund Umweltbewegungen). Die Kirche wird hier, so der Wiener Pastoraltheologe, den ziemlich schlecht wegkommenden „obrigkeitlichen" Einrichtungen zugeordnet, „die man hinter sich bringt": Schule, Bundesheer und - Kirche.

Was Menschen zunehmend von der katholischen Kirche abschrek-ke, sei deren Nähe zum Autoritaris-mus, meint Paul Zulehner und resümiert: „Die große Kunst der Kirche von heute ist die Inkulturation des Evangeliums in den Kontext der Freiheit. Diese Inkulturation ist noch nicht gelungen."

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