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Wahrheitssager im Norden

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Als August Strindberg in den achtziger Jahren sein „Wahrheitssagen“ gegenüber einem akademischen Klassizismus und romantischen Idealismus verkündete, wurde es bald wie eine Befreiung aufgenommen.

Es war die Fassade einer falschen Repräsentanz, auf die es Rebellen wie Strindberg mit ihrer „Ehrlichkeit“ vor allem abgesehen hatten. Die Welt von heute hat ihnen und den Pionieren der Jahrhundertwende in der Tat manches zu danken. Sie möchte etwa auf dem Gebiet der Architektur die Ehrlichkeit nicht mehr missen, die sie mit der neuen Parole der „Funktion“ von den neugotischen Ziegelkirchen, den kuppelbekrönten Renaissancepalästen der Theater und Museen, vom Türmchenwerk der Zinspaläste befreit hat. Gewiß ist „Funktionalismus“ nicht das letzte Wort, aber der Gewinn einer neuen Bau-Ehrlichkeit. Und ähnliches gilt für viele andere Gebiete des modernen Lebens.

Freilich scheinen wir schon wieder die Grenze der Dankbarkeit für die Befreiung durch „Ehrlichkeit“ erreicht zu haben. Sie besteht zwar weiterhin als die Errungenschaft des Jahrhunderts und wird millionenfach täglich erlebt und erstritten. Es läßt sich doch nicht leugnen, daß uns der Blick auch für ihre früher verborgene Seite aufgegangen ist: für die Einseitigkeit dieser Ehrlichkeit und ihre damit verbundene zerstörende Wirkung.

Schon bei Strindberg merken wir dies. Das Paradox kann nachdenklich machen, daß er, der sich selbst mit Vorliebe „Wahrheitssager“ nennt, von seinem früheren Freund und späteren Gegner Werner von Heiden-s t a m als „der größte Lügner der schwedischen Literatur“ bezeichnet wird. Gewiß spielt bei dieser Beschimpfung der Affekt des Rivalen kein geringe Rolle. Wie aber kann „Wahrheitssagen“, dieses große Wort, wenn es wirklich seinen Namen verdient, einem Mann wie dem Dichter Heidenstam, der über kritisches Urteil verfügt, als das polare Gegenteil erscheinen? •

Liest man Strindbergs Briefe, die jetzt für eine Gesamtausgabe von etwa zehn Bänden gesammelt werden (die ersten drei Bände, die die Jahre 1858 bis 1883 umfassen, sind 1948, 1950 und 1952 erschienen), so erhält man Antwort auf diese Frage. Man zweifelt nicht daran, daß diese großartigen Kundgebungen den jeweiligen Aspekt des Verfassers voll zum Ausdruck bringen, aber man merkt bald, daß es sich dabei eben nur um einen Aspekt handelt. Der Schreiber verdreht mit oder ohne Absicht Fakten, bläst Kleines, sofern es ihn betrifft oder gar trifft, willkürlich auf, während er andere Personen weniger als objektive Existenz denn als Objekt für seine Existenz zur Kenntnis nimmt. Er bringt leidenschaftliche Parolen vor, die doch schnellen Wandlungen unterliegen, ja ihm selber bald im entgegengesetzten Sinn einleuchtend werden, immer wohl packende Aussagen, aber als Wahrheitsaussagen oft unzulänglich. So erweisen sich sein absoluter 'Anarchismus und Reformsozialismus nach der Bekanntschaft mit Nietzsche zugunsten eines neuen Aristokratismus als Irrtum, die oft geradezu tollen Blasphemien der siebziger Jahre entwickeln sich zur trefreichenden religiösen Bereitschaft der „Blaubücher“. Der Schreiber dieser Briefe ist zwar „Wahrheitssager“, aber ein höchst subjektiver. Einzig die Perspektive, die sich jeweils aus seiner intellektuellen Einsicht ergibt, gilt als unbestreitbar und wird gegenüber jedem eventuellen Bestreiter mit einer Heftigkeit und Schlagkraft verteidigt, daß sich der so Bearbeitete der Faszination kaum entziehen kann.

Schon dies läßt auf eine Begrenztheit des „Wahrheitssagens“ schließen. Es ist nicht umfassend, sondern entspricht nur einem Ausschnitt des Bewußtseins, da sich ja immer ein Teil der Wahrheit, mit oder ohne Absicht, dem Zugriff der „Ehrlichkeit“ entzieht. Die Formulierung mag geistvoll einleuchtend und gegenüber einem konventionellen Ton erfrischend und befreiend wirken, aber sie umfaßt nicht das Ganze, kann es nicht umfassen, wenn auch ihr Verkünder meint, ihm Genüge zu leisten. Dadurch aber geschieht es, daß diese „Ehrlichkeit“ verheerend wirken kann, wenn der Verfasser Anspruch auf Unfehlbarkeit erhebt. Sie unterminiert und sprengt dann alles, was im Sinne einer die Gegensätze versöhnenden Ganzheit den Namen Wahrheit — „Geist der Wahrheit“ — verdient.

Wie steht es nun mit Nden Nachfolgern Strindbergs?

Vergleicht man die Forderungen, die heute im Norden an „Wahrheitssagen“ und „Ehrlichkeit“ gestellt werden, mit der Strindberg-schen, so erscheinen sie durchaus radikaler. Strindberg war niemals so „ehrlich“, sich in einem verächtlichen Sinn preiszugeben. Er ging bei seiner Lebensbeichte „Der Sohn einer Magd“ recht vorsichtig zu Werke. Erst vor kurzem hat man einen Korrekturbogen dieses Buches entdeckt, wo er sich ursprünglich einer niedrigen Handlung beschuldigte, doch später durch Ueberstreichen der betreffenden Stelle das. Bekenntnis wieder zurücknahm, so daß es nicht gedruckt werden konnte.

Obzwar Strindbergs „Ehrlichkeit“ mit seinem Atheismus zusammenhängt, während moderne „Wahrheitssager“ des Nordens oft im Oxfordsinn christliche Lebensbeichten damit verbinden, muß man eine ausgesprochene Verschärfung in der Rücksichtslosigkeit der öffentlichen Selbstbeschuldigung feststellen. Während Strindberg, wie er selber bekennt, von einem tief eingewurzelten Gefühl der Schamhaftigkeit nicht loskommt, lassen sich die heutigen Verfasser nicht nur selber, sondern auch ihren Nächsten in intimster Nacktheit sehen. Die Anforderungen, die an „Ehrlichkeit“ gestellt werden, sind so angewachsen, daß es zweifelhaft ist, ob „Der Sohn einer Magd“ überhaupt noch als Dokument dieser Art gewertet werden würde, wenn das Buch heute erschiene.

Der siebzigjährige Sektenmann und bekannte Schriftsteller Sven Lidman gilt jetzt als der „Wahrheitssager“ Schwedens und des Nordens. Er enthüllt in seinen Memoiren, von denen bis jetzt zwei Bände erschienen sind (1951 und 1952) — sie haben enormes Aufsehen erregt —, sich selber in einem Maß, wie es bisher kein schwedischer Autor gewagt hat. Das Wort Selbstdarstellung muß hier durch das Wort Selbstentblößung ersetzt werden. Die Sexualität ist ein großes Thema, und er spürt ihr, offenbar von Freud und Gide, aber auch von Rousseau und Stendhal gestützt, mit einer Unerbittlichkeit nach, die sich durch keine Rücksicht einschränken läßt. Bekenntnisfanatismus vermischt sich mit Zynismus und Exhibitionismus. Es ist besonders der letztere, der die schwedische Kritik trotz der Achtung, die sie vor diesem bedeutenden Schriftsteller hat, von' ihm wieder Abstand nehmen läßt.

Gewiß ist diese Leidenschaft der Selbstpreisgabe, die in die „Kloake“ führt, wie Lidman es nennt, konsequenter als die Selbstbewahrung Strindbergs, aber auch heftiger in ihrer destruktiven Wirkung. Daß natürliches Schamgefühl im Sinne des Apostels Paulus einen Wert für das geistige Leben bedeuten könnte und nicht unbedingt Prüderie sein müßte, wird von Lidman, obwohl er sich Christ nennt, nicht mehr gesehen. Im Gegenteil gilt ihm alles, das die volle „Ehrlichkeit“ verhindert, als etwas zu Beseitigendes. Und er steht nicht allein mit dieser Meinung. Rezensenten gehen so weit, daß sie pornographische Detailschilderungen „keusch“ nennen, wenn sie sie als im Zeichen der „Ehrlichkeit“ geschrieben ansehen.

Daß dadurch das „Wahrheitssagen“ einer Revision unterzogen werden muß, wird langsam klar. Es scheint auch kein Zufall zu sein, daß man sogar von schwedischer Seite zur Besinnung zu mahnen beginnt. Der Dichter Harry Martinson, einer der achtzehn der Akademie, hat in einer Radiorede gemeint, daß die Ursache der radikalen Ehrlichkeit in einem Mangel an innerer Erlebnismöglichkeit und Tiefe beruhe, und er hat nicht unrecht damit.

Wer hätte es freilich noch vor wenigen Jahren wagen dürfen, am Heil des „Wahrheitssagens“ zu zweifeln? Er wäre sofort als Dunkelmann verschrien worden. Audi heute geschieht es nicht ohne Risiko, solche Bedenken laut werden zu lassen. Der Kritiker kann Gefahr laufen, zum Angreifer der heiligsten Güter gestempelt zu werden. Man befindet sich im Norden ja auf dem klassischen Boden der Freiheit. Aber ist nicht auch hier — Säkularisierung eingetreten? Die literarische „Ehrlichkeit“ von heute — deckt sie sich mit der Redlichkeit von einst? Diese war trotz ihres oft losen Zusammenhanges eingeordnet in ein Ganzes von Kultur und Sitte. Die als „Ehrlichkeit“ gewertete literarische Freiheit aber hat sich daraus losgebrochen, hat jede Ganzheit, auch die der Kultur, verlassen und zeigt, in welche Bahnen das „Wahrheitssagen“ geraten, welche Werte ein solcher Amoklauf zerstören kann. Es trifft nicht mehr bloß die Fassade des Kulturgebäudes, wie es einst Strindberg gemeint hat, sondern dringt mit seinen neuen Mitteln schon viel tiefer ein: es sprengt die tragenden Pfeiler selber.

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