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Resigniert Kossygin?

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Ostauguren prophezeien schon lange, daß Ministerpräsident A. N. Kossygin resignieren will (oder muß?). Mit dem letzten Stichtag — 14. Juni: Wahlen für den Obersten Sowjet — stimmte es wieder nicht. Die Kombinationen um Kossygin kreisen im Kreml um drei Möglichkeiten.

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Ostauguren prophezeien schon lange, daß Ministerpräsident A. N. Kossygin resignieren will (oder muß?). Mit dem letzten Stichtag — 14. Juni: Wahlen für den Obersten Sowjet — stimmte es wieder nicht. Die Kombinationen um Kossygin kreisen im Kreml um drei Möglichkeiten.

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Kossygin ist derzeit 66 Jahre alt, und zur Zeit der Abhaltung des 25. Parteikongresses wird er 70. Es ist durchaus möglich, daß der Vorsitzende des Ministerrates am 24. Kongreß im Oktober oder November 1970 resignieren wird. Die Frage ist: unter welchen Begleitumständen? Hängt dies allein von ihm ab? Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets, N. W. Podgorny, ist ein Jahr älter, daher wird sein Rücktritt noch in diesem Jahr erwartet. Dadurch würde freie Bahn für Kossygins „Sturz nach oben“ gegeben, wenn die Kremlvermutung stimmt, das Kossygin das Amt des nominellen Staatschefs übernehmen soll. Aber es könnte vorkommen, daß Kossygin nur zur ehrenvollen Resignation gezwungen wird, was einen Abstieg bedeuten würde. Im Juli 1964 wurde im Falle A. I. Mi-kojans die Technik des „Sturzes nach oben“ praktiziert. Zwei Jahre später mußte dann Mikojan endgültig in Moskau abtreten und auch das Politbüro verlassen. Die Inszenierung war geräuschloser und stilvoller als früher mit Molotow und Kaga.no-witsch.

ist nicht der beste. Im März und Anfang April 1970 war er wiederholt in Spitalbehandlung mit verschiedenen Krankheiten, angefangen bei Influenz bis Nierenstörungen. Krankheiten und hohes Alter sprechen gegen die weitere politische Aktivität des sowjetischen Ministerpräsidenten. Ja, könnte er dann die Repräsentationspflichten eines Staatspräsidenten reibungslos erfüllen? Kaum! Spekulationen in bezug auf Kossygins ramponierte Gesundheit sind jedoch seit sechs Jahren im Umlauf. Und er blieb dennoch. Kossygin ist der meist kritisierte und getadelte Mann im Politbüro, weil er kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn er öffentlich Reden hält. Die Mißstände in der Sowjetindustrieproduktion und das niedrige Niveau des Exports in Vergleich mit Italien, Frankreich und Großbritannien sind seine Lieblingsthemen. Im Ausland trat er auf Pressekonferenzen für die Kooperation mit dem Westen und die Limitierung der Aufrüstung ein. Anläßlich der Invasion der CSSR war Kossygin neben Podgorny die prominenteste „Taube“, auf die man nicht gehört hat.

Seine höchste Wertschätzung liegt nicht in der Partei, sondern bei Wirtschaftsmanagern, Wissenschaftlern, Diplomaten und Schriftstellern, die zusammen mit ihm für einen besseren Lebensstandard kämpfen. Kurzum: er ist ein Pragmatiker und kein Dogmatiker! Er hat zum Beispiel das Dogma des sakrosankten Vorranges der Schwerindustrie verworfen. Von keinem anderen Mitglied des Politbüros könnte das behauptet werden.

Wer könnte Kossygins Erbe übernehmen? In erster Linie kämen die zwei Stellvertretenden Ministerpräsidenten in Betracht: K. T. Mazurow und D. S. Poljansky. Wo stand ihre politische Wiege? Mazurow ist älter, 1914, und ein Weißrusse. Poljansky ist jünger, 1917, und ein Ukrainer. Die ukrainische Lobby ist in Moskau derzeit viel stärker als die weißrussische. Poljansky ist ein Agrar-fachmann und plädiert für größere Investitionen in der Kollektivwirtschaft während der neuen Fünfjah-resplanperiode 1971 bis 1975. Da Bre-schnjew sein ganz persönliches Prestige für die Weiterentwicklung der Landwirtschaft verpfändet hat, ist es wahrscheinlich, daß der große Boß einen Agrarexperten gern an der Regierungsspitze haben würde.

Die Entscheidung wird jedoch im Politbüro getroffen und nicht von Bre-schnjew allein. Es ist eine stille Bewegung im Politbüro spürbar, deren Motto „Bringt Breschnjew zum Stehen!“ lauten könnte. Vielen gefällt es nicht, daß Breschnjew seine

„Selbst-Aufwertungs-Kampagne“ rücksichtslos vorantreibt. Mazurow wäre ein schwererer Bremsklotz bei Breschnjews Höhenflug als der weiche, politisch leichtere Poljansky. Oder könnte das Politbüro einen dritten, besseren Kandidaten für Kossygins Posten finden?

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