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Systemreparatur ist zu wenig

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Mehr Mut zu einer offenen Debatte über Reformen im Sozialsystem fordert Caritas-Präsident Helmut Schüller.

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Mehr Mut zu einer offenen Debatte über Reformen im Sozialsystem fordert Caritas-Präsident Helmut Schüller.

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Die Nervosität vieler Menschen im Zusammenhang mit der Debatte über eine Reform des Sozialstaates ist nur allzu begreiflich. Denn für viele österreichische Haushalte sind die Leistungen des Wohlfahrtsstaates ein fix kalkulierter Einkommensbestandteil!“ — Dennoch spricht sich Caritas-Präsident Helmut Schüller gegenüber der FURCHE für eine offene, ehrliche Debatte „jenseits von Parteistandpunkten“ aus: „Es muß allen klar werden, daß es nicht einzelne Gruppen sind, die vom Sozialstaat profitieren, sondern die gesamte Gesellschaft.“ Vom sozialen Frieden profitierten ja schließlich auch jene, die für Sozialleistungen mehr finanziell beitragen, als sie direkt zurückerhalten.

Kritik übt Schüller an der bisherigen inhaltlichen Ge wichtung der Debatte: „Es ist falsch, die Reform damit zu beginnen, indem man überlegt, wem man etwas wegnimmt vielmehr sollte zunächst definiert werden, wer in erster Linie unterstützt werden soll.“ Für den Caritas-Prä- sidenten wären das etwa psychisch Kranke („Es gibt immer mehr Menschen, die mit der rasanten Entwicklung unserer Gesellschaft nicht mehr mithalten können - ein Problem, das immer mehr an Bedeutung gewinnt“), arbeitslose Jugendliche, alte Menschen, aber auch jene Gastarbeiter, die zwar Sozialbeiträge eingezahlt haben, aber etwa durch zu kurze Beitragszeiten im Invaliditätsfall ohne ausreichende soziale Absicherung dastehen.

Nicht als „Sozialfall“ stuft Schüller die Familien ein: „Das ist ein Spezialkapitel, bei dem es eigentlich darum geht, daß der Staat seiner Verpflichtung nachkommt, den Familien als wichtigsten funktionierenden sozialen ,Dienstleistungsbetrieben1 das Existenzminimum abzusichern.“ Der Caritas-Präsident plä: diert daher für ein steuerfreies Existenzminimum für jedes unterhalts berechtigte Familienmitglied.

Grundsätzlich kritisiert Schüller am derzeitigen Sozialsystem, daß dieses viel zu kompliziert und unübersichtlich geworden ist: „Das ist wie bei jedem anonymen Großapparat: wenn die Beitragszahler gar nicht wissen, was mit ihren Beiträgen finanziert wird, dann werden die Leute natürlich abweisend und mißtrauisch. Und dann weigert man sich, den Sozialstaat zu unterstützen.“ Andererseits begünstigten die komplizierten Bestimmungen auch einen gewissen Mißbrauch des Sozialsystems. Notwendig wäre auch ein „gewissenhafter und sorgfältiger Umgang mit den Mitteln des Gemeinwesens“ - denn wenn der Eindruck bestehe, es werde penibel und gewissenhaft gearbeitet, dann werde auch die Bereitschaft steigen, dafür Beiträge zu leisten.

Schüller hält daher eine bloße Reparatur des Sozialstaates im Rahmen des bisherigen Systems nicht für zielführend: „Da wird das alles nur noch Unüberschaubarer.“ Notwendig wäre eine Neuorientierung von Grund auf - wobei die Zielsetzung sein müsse, möglichst viele Mitbürger angemessen am Wohlstand zu beteiligen. Schüller warnt allerdings davor, daß die Sozialdebatte in eine Diskussion „auf der einen Seite die Almosenempfänger, auf der anderen Seite die Reichen, die geben müssen“, abgleitet.

Ein Bestandteil der Neuorientierung der Sozialpolitik müßte auch eine „Internationalisierung“ sein: „Sozialpolitik wird in Zukunft keine reine Nationalveranstaltung mehr sein können.“ Österreich sei - mit dem Beitritt zur EU mehr denn je - in ein wirtschaftliches Gesamtsystem integriert. Sollte es keinen Ausgleich bei den Sozialstandards gegenüber den ärmeren Ländern geben, werde dies letztlich auch Auswirkungen auf das heimische Sozialsystem haben, meint Schüller.

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