Vor dem Brexit waren Gröxit und Alxit

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Wie geht so ein Austritt aus der Europäischen Union vonstatten? Der Fall Großbritanniens wird zwar erst verhandelt, aber ganz so theoretisch, wie allgemein behauptet, ist ein Austritt nicht. Ein paar Beispiele für echte Austritte aus der Europäischen Gemeinschaft.

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Wie geht so ein Austritt aus der Europäischen Union vonstatten? Der Fall Großbritanniens wird zwar erst verhandelt, aber ganz so theoretisch, wie allgemein behauptet, ist ein Austritt nicht. Ein paar Beispiele für echte Austritte aus der Europäischen Gemeinschaft.

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Nach dem Brexit-Votum stehen Großbritannien harte Verhandlungen bevor. Die neue Regierung unter Premierministerin Theresa May will den Zugang zum EU-Binnenmarkt behalten, muss aber dafür wohl Zugeständnisse beim Thema Freizügigkeit machen, die die Brexit-Befürworter aus Angst vor unkontrollierbaren Migrationsströmen gern geschliffen sähen. Der in Rede stehende Artikel 50 des EU-Vertrags, wonach "jeder Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen (kann), aus der Union auszutreten", hat noch keine praktische Anwendung gefunden. Juristen hatten sich bislang nur in der Theorie in Fachaufsätzen und Lehrbüchern mit dem Thema befasst, entsprechend schwierig wird es, die Modalitäten für einen Austritt auszuhandeln. Doch es gibt historische Vorläufer.

Algeriens EWG-Austritt

Mit der Unabhängigkeitserklärung und gleichzeitigen Loslösung von Frankreich trat Algerien 1962 aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), einem Vorläufer der EU, aus. Algerien war bis dato französisches Territorium und in mehrere Départements untergliedert. Der Alxit wurde formal nicht erklärt und resultierte auch nicht in einer Reduzierung der Zahl der Abgeordneten in der Parlamentarischen Versammlung der EGKS, was dem Proporzprinzip nicht Rechnung trug. Die Beziehungen zwischen Algerien und der EWG liefen auf informeller Ebene weiter und wurden erst 1976 durch ein bilaterales Abkommen formalisiert. Weil nicht klar war, ob der EWG-Vertrag auf ein abgespaltenes Land anwendbar war, hatte Algerien in einem rechtlichen Graubereich weiter Zugang zum Binnenmarkt.

Es gibt noch einen weiteren Präzedenzfall: 1982 votierte Grönland in einer Volksabstimmung mit knapper Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. 1973 war die Insel mit ihren 56.000 Einwohnern mit dem Beitritt Dänemarks zur EWG Mitglied derselben geworden, obwohl sich die Inselbewohner zwischen dem Nordpolarmeer und dem Nordatlantik in einem Referendum 1972 mehrheitlich gegen einen Beitritt aussprachen. Doch als Teil Dänemarks mussten sich die Grönländer dem Mehrheitswillen beugen. Die Inselbewohner fürchteten vor allem einen Kontrollverlust ihrer Fischereirechte, aus dem sich ein Großteil der Einnahmen speist. Obwohl Dänemark einen Sitz im Europäischen Parlament, das seit 1978 direkt gewählt wird, für Grönland reservierte, wuchs auf der Insel fortan der Groll gegen die Brüsseler Bürokratie. Der Europaabgeordnete Finn Lynge wetterte gegen den "leibhaftigen Satan Brüssel". Eine Rhetorik, die in heutigen Ohren vertraut klingt. Insofern zeigt sich hier eine historische Analogie zum Brexit.

Als Grönland 1979 den Status der Selbstverwaltung erlangte, startete die Regierung in Nuuk einen neuerlichen Anlauf, die EWG zu verlassen. In dem Referendum 1982 stimmten schließlich 52 Prozent der gut 30.000 grönländischen Wähler gegen den Verbleib ihres Landes in der Europäischen Gemeinschaft. "Zu Hunderten paradierten begeisterte Grönländer in arktischer Nacht durch die Straßen und brüllten ihren Schlachtruf: "Anisa, anisa!" - "Wir steigen aus!", berichtete der Spiegel damals. Zwar war das Votum nicht bindend, doch die dänische Regierung, die Grönland außenpolitisch vertritt, fügte sich dem Entscheid. Grönlands ehemaliger Premierminister Lars-Emil Johansen, der die Austrittskampagne anführte, erinnerte sich in einem Gespräch mit der Daily Mail: "Ich musste jeden Monat nach Brüssel fahren und um Erlaubnis fragen, ob ich in unseren Gewässern fischen darf. Sie gehörten nicht mehr uns. Es war irritierend, gesagt zu bekommen, wir wären Teil der europäischen Familie und müssten alles mit unseren Freunden teilen." So kam es zum "Gröxit". Die Fläche der EWG -Grönland ist fünfmal so groß wie die Schweiz -wurde auf einen Schlag halbiert.

Es war ein langer und zäher Prozess, bis der Austritt Grönlands vollzogen war. Erst drei Jahre später, 1985, war die Ehe formal geschieden. "Die Verhandlungen waren überraschend unangenehm", sagte der damalige grönländische Chefunterhändler Lars Vesterbirk, dem Magazin Politico. "Die EU-Mitgliedstaaten wollten uns nicht ernst nehmen, weil sie nicht bereit waren zu akzeptieren, dass man die EWG verlassen konnte oder sollte." Ein ähnliches Szenario könnte den Briten dräuen. Wenn eine Lehre aus dem Präzedenzfall Grönland zu ziehen ist, dann die, dass die Austrittsverhandlungen bis zu drei Jahre dauern können. Wobei die Fälle natürlich nicht vergleichbar sind, weil Grönland gerade einmal die Einwohnerzahl von Wimbledon hat. Insofern taugt der "Gröxit" nur bedingt als Blaupause.

Geldhahn zugedreht

Durch den Austritt aus der Gemeinschaft versiegte auch der Geldstrom nach Grönland. Knapp 200 Millionen Kronen wendete Brüssel seit 1982 pro Jahr für die Entwicklung der arktischen Insel auf. Der Spiegel nannte die Entscheidung damals eine "pure Dummheit". Grönland und die Gemeinschaft nahmen nach dem Austritt bilaterale Beziehungen auf. Durch das Assoziierungsabkommen (OCT) kann Grönland seine Fischereiprodukte zollfrei in den Binnenmarkt einführen. 2015 wurde eine "Gemeinsame Erklärung" zu den Beziehungen zwischen der EU und Grönland von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, dem grönländischen Premier Kim Kielsen und der dänischen Premierministerin Helle ThorningSchmidt unterzeichnet . Im Zeitraum zwischen 2014 und 2020 erhält Grönland im Rahmen der Kooperation 217,8 Millionen Euro Zuwendungen aus einem Strukturfonds. Insofern verwundert es nicht, dass die strukturschwache Insel derzeit über einen Wiederbeitritt zur EU debattiert. "Wir sollten wenigstens die Option eines erneuten Beitritts in Betracht ziehen", sagte der Parlamentsabgeordnete Michael Rosing der Agentur Reuters.

In Edinburgh wird derzeit die "umgekehrte Grönland-Option" diskutiert. Großbritannien verlässt die EU, und Schottland wird - womöglich als Rechtsnachfolger -neues EU-Mitglied. Dass dies nun in Brüssel beklatscht wird, erstaunt umso mehr, als das Referendum zur schottischen Unabhängigkeit 2014 als Zeichen von Kleinstaaterei gewertet wurde. Bei der Neuordnung der EU scheint es noch einigen Diskussionsbedarf zu geben.

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