Die Ehe ist kein legalisiertes Bordell
Die österreichischen Bischöfe hätten gesündigt, als sie sich 1968 mit der "Mariatroster Erklärung" von der päpstlichen Enzyklika "Humanae Vitae" distanzierten, glaubt Kardinal Christoph Schönborn und sorgt damit für Wirbel. Die aktuellen Probleme in Kirche und Gesellschaft hätten andere Ursachen, sagen seine Kritiker.
Die österreichischen Bischöfe hätten gesündigt, als sie sich 1968 mit der "Mariatroster Erklärung" von der päpstlichen Enzyklika "Humanae Vitae" distanzierten, glaubt Kardinal Christoph Schönborn und sorgt damit für Wirbel. Die aktuellen Probleme in Kirche und Gesellschaft hätten andere Ursachen, sagen seine Kritiker.
Seit einiger Zeit steht politisch und kirchlich die Familie wieder zur Diskussion. Vielerorts wird ihr Niedergang beklagt - ganz zu Recht. Doch was die Überlegungen zu den Gründen dieses Niedergangs betrifft, scheint die Klarheit manchmal durch alte Rezepturen und Auskünfte getrübt, in denen Ressentiments, Ideologien oder Schablonen der Wahrnehmung sich verbergen. Das betrifft mitunter auch Stellungnahmen, die aus zentralen kirchlichen Institutionen kommen und dieses Thema aufgreifen, wie es Erzbischof Christoph Kardinal Schönborn im Rahmen einer Bischofsversammlung des Neokatechumenalen Weges in Jerusalem im Frühjahr 2008 getan hat, wie veröffentlicht wurde (auch die FURCHE berichtete; vgl. Seite 19; Anm.)
Rapider Geburtenrückgang
Der Kardinal wies in diesem Zusammenhang die Mariatroster Erklärung zurück, in der die Bischöfe Österreichs im Jahr 1968 in Bezug auf die Enzyklika "Humanae vitae" von Papst Paul VI. von der letzten Instanz des Gewissens gesprochen hatten, die in der Frage der ehelichen Regelung der Familienplanung entscheidend sei. Der Kardinal beschreibt das als Sünde, die man bekennen und von der man sich abwenden müsse. Ihr Effekt liege darin, dass sie den rapiden Geburtenrückgang absegne, der zum Ausfall der Jugendlichen, die es in Mengen auch gesellschaftlich nicht mehr gibt, aus dem kirchlichem Bereich führe.
Das Faktum einer weithin jugendlosen Kirche lässt sich nicht leugnen. Dass es - rein demografisch gesehen - dabei auch um eminent pragmatische Interessen der Kirche geht, die zu verteidigen sind (Mitgliederschwund, der sich exponentiell beschleunigt, auch wenn die Austritts- und Eintrittszahlen einigermaßen stabil sind), ist vollauf verständlich und Angelegenheit der Kirchenleitung, die ihre berechtigten Gründe hat, hier aufzuschreien.
Doch diese Gründe sind so eindeutig nicht. Vor allem theologisch ist ein wenig genauer zuzusehen und Folgendes zu erkennen.
Wenn die Mariatroster Erklärung das Gewissen der kirchlichen Eheleute zur entscheidenden Instanz macht, so lädt sie in überhaupt keiner Hinsicht Schuld oder Sünde auf sich, die man zu bereuen hätte. Denn in theologischer Hinsicht gilt es zu bedenken: Die Ehe ist ein kirchliches Sakrament, gleichwertig dem Sakrament der Weihe. Beide kommen aus den Wurzelsakramenten von Taufe, Firmung und Eucharistie und sind daher grundlegend gleich gewichtig. Sakramente sind Heilsmittel Gottes für die Menschen, und zwar, wie die katholische Kirche lehrt, effektive Heilsmittel, also kein Als-ob, kein Placebo, das man permanent von anders woher korrigieren muss. Das heißt also - immer auf der Basis der katholischen Sakramentenlehre und ihrer Folgen: Durch das Sakrament der Ehe leben die Eheleute gemeinsam in einem von Gott geheiligten Bund und sie leben ihre Ehe im sakramental geheiligten Gewissen. Gefestigt ist dieser Umstand noch durch eine große Besonderheit des Ehesakraments: Es ist das einzige der sieben Sakramente, das nicht der Priester (oder Diakon oder Bischof) spendet, sondern das sich die Betroffenen selbst, also die Eheleute selber spenden; der Priester assistiert dieser Sakramentsfeier lediglich. Das Gewissen also als letzte Instanz zu betonen, heißt daher, dem sakramentalen Geheimnis der christlichen Ehe theologisch und pastoral vollkommen gerecht zu werden. Hier kann keine Sünde vorliegen, von der man sich abzuwenden hätte - es sei denn, man konstruiert einen theologischen Widerspruch der Ehe. Welchen Interessen aber soll dieser dienen?
Allgegenwart des Kapitals
Ein Zweites, was auffällt in diesen wiederkehrenden Debatten, liegt in den blinden Flecken, die sichtbar werden. Einseitig ist es, diese Frage auf die individuelle Ebene des Geschlechtsakts zu reduzieren, als ginge es in der Ehe entscheidend um diese Frage. Familienplanung heute hat kaum etwas mit den lehramtlichen Konstruktionen zu tun, als wollten sich die Eheleute geschlechtlich ausleben, und das ganz folgenlos. Solche Gedanken sind phantastisch. Um es hart zu sagen: Die Ehe ist kein halbwegs legalisiertes Bordell, das man kirchlich ständig an die Zuchtkandare nehmen muss, um die tiefen, viehischen Triebe des menschlichen Sexus niederzuzwingen. Die Ehe, gerade auch die kirchlich sakramentale, lebt in einem unheimlich verzweigten Geflecht, in dem ganz andere massive Kräfte eine Rolle spielen als der Geschlechtsverkehr. Dieses Geflecht nicht in der öffentlichen Debatte zu benennen, sondern den fast lasterhaften Fokus auf das Ehebett zu richten, hat nicht nur etwas ein wenig Obszönes an sich, sondern zeigt auch eine Verengung an, die abstrakt bleibt, wirklichkeitslos.
Der Geburtenrückgang hat wesentlich stärkere gesellschaftliche Gründe, die überhaupt erst das Thema einer vielfältigen Familienplanung aufwerfen. Der massivste Grund wird wohl die Allgegenwart und Allmacht des Kapitals sein. Indem alle Lebensbereiche kapitalisiert worden sind, wird alles der Berechnung unterworfen. Und so ist eine geschichtlich beispiellose Jagd nach Geld entstanden, die die Ruheplätze und Ruhezeiten zerstört. Nicht nur die Leistungssportler, allesamt leben wir heute unter der Peitsche des Dopings, die das Geld schwingt und auf uns regelmäßig niederfahren lässt. Kinder sind da ein massiver Störfaktor, sie belasten die Haushaltsbilanz, sie zerstören die letzten kurzen Fristen der Erholung. Sie rechnen sich individuell nicht. Wer Kinder hat, der zahlt drauf.
Genau diesen massiven ökonomischen Terror, der heute abläuft, hier nicht zu sehen und stattdessen in fast ritueller Fixierung auf ein Zweierspiel dieses chronisch als schmutzig und sündig zu demaskieren, weckt traurige Erinnerungen: Vielleicht gehörte es zur Schwäche der Kirche während der vergangenen eineinhalb Jahrhunderte, dass sie sich in individueller Hinsicht rigoros, in gesellschaftlichen Belangen aber naiv verhalten hat und so politische und ökonomische Prozesse geduldet hat, die den Menschen das Leben langsam abdrücken und sie in den Ruin treiben, während sie, davon wenig beeindruckt, mit Argusaugen über die individuellen Verhältnisse gewacht hat, als wären diese nicht längst gesellschaftlich bedingt und, wie heute, dadurch ausgehöhlt.
Bete und tu, was du willst
Man sollte sich von diesem engen Blick lösen und der sakramentalen Wirklichkeit der Ehe das Gewicht zumessen, das ihr zukommt: das Gewicht einer von den beiden Eheleuten gemeinsam getragenen Gewissensentscheidung, wie sie miteinander in ihrem heiligen Bund leben wollen, den sie sich - ohne priesterliche Vermittlung, bloß unter priesterlicher Assistenz und Zeugenschaft - vor Gott selbst zusagen. Worin die Kirche die Eheleute unterstützen sollte, bestünde nicht in den Anweisungen zu einem einigermaßen rigiden Geschlechtsleben; diese Fokussierung wirkt zerstörend. Man sollte die Eheleute nicht fragen, wie sie ihre Intimität gestalten, wie sie sie feiern - gerade auch als Liebe und nicht vorwiegend funktionalisiert als Reproduktionsstätte von christlicher Nachkommenschaft; man sollte die Eheleute eher fragen, wie sie es mit dem Gebet halten. Augustinus sprach einst: Liebe und tu, was du willst. Man kann es heute auch so interpretieren: Bete und tu, was du willst. Denn wenn der Mensch betet, dann weiß er, dass er nicht Gott ist; wenn der Mensch betet, bleibt er Mitmensch, fähig, den Partner zu lieben, zu achten und zu ehren. Wenn er betet, dann kommt er über die Sünde hinaus, die immer darin besteht, ein Detail zu fixieren und sich daraufhin selbst zum Gott zu machen, der mit seinen Losungen kommt und rettet.
Nicht die Mariatroster Erklärung stellt eine Sünde dar, von der man sich abzuwenden hätte, sondern eher ein gefährlicher Rigorismus, der sich verengt, totalisiert und das Heiligste im Menschen zerstört: sein von Gott geheiligtes Gewissen.
Der Autor ist Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Wien.
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