Erinnerung hat mit Wachsamkeit zu tun

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Verblasst die Erinnerung, so ist ein neuer gesellschaftlicher Kollaps unausweichlich. Von so vielen Seiten kündigt er sich an.

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Verblasst die Erinnerung, so ist ein neuer gesellschaftlicher Kollaps unausweichlich. Von so vielen Seiten kündigt er sich an.

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Erinnerung gerät mehr und mehr unter Druck. Spätestens seit Martin Walsers Attacke auf die "Moralkeule Auschwitz" greift die Hoffnung auf Normalisierung durch (gezieltes) Vergessen um sich. Man will neu anfangen, denn die Heutigen können doch allesamt nichts für das, was in den grauen Vorzeiten des 20. Jahrhunderts getan wurde. Aus der Masse historischer Untersuchungen, deren Titel unüberschaubar geworden sind, will man hinaus ins Freie. - Erinnerung? Woran? Ein latenter Hass aufs Gestrige, dem der Stil der Dauerjugend gegenübergestellt wird, erlöst sich im Plädoyer fürs Vergessen -, und es mag der Tag kommen, da das Vergessen gar kein Plädoyer mehr braucht, weil es vollzogen ist.

Dagegen stellt sich Erinnerung, freilich nicht Erinnerung überhaupt. Diese wäre eine Art unendlicher Registratur, die fiktiv und unmenschlich zugleich ist. Das gilt gerade auch für historische Erinnerungsverfahren. Diese sind unerlässlich, damit vor allem die Demagogen der Anständigkeit sich und ihren Anbetern die Schoa nicht langsam weglügen können. Doch will man sich historisch über die Schoa ein definitives Bild schaffen durch ein Unmaß ausgeforschter Details, so hieße das, die Schoa endgültig einzuordnen und sie als abgerücktes Geschehen beobachten zu können.

Doch was die Schoa heute bedeuten wird, weiß kein Beobachter; geahnt wird es in einer Erinnerung, der die Toten, die Exilanten, die Zerbrochenen, die sich schließlich wie Jean Amery umbrachten, zum Testament werden. Da wird nicht beobachtet, sondern bezeugt. Die Ermordeten füllen deshalb in solcher Erinnerung keine Statistik auf, sondern sind religiöser und moralischer Appell. Dass sie einen angehen und einem in der Erinnerung nachgehen, will nichts anderes, als dass die Mörder das Geschick der Ermordeten nicht endgültig besiegelt haben dürfen. Das aber hängt seit jeher an der Hoffnung auf den biblischen Gott. Seit Jahrtausenden wird er erinnert in den vielen Untergangsgeschichten Israels, und seit Jahrtausenden wird mit ihm (trotz des politischen und religiösen Missbrauchs) Widerstand, Auszug, Rebellion, Verneinung des Unmenschen verbunden.

Verblasst diese Erinnerung, so ist ein neuer gesellschaftlicher Kollaps unausweichlich. Von so vielen Seiten kündigt er sich an, und dabei erweist sich auch die bedrückende faktische Schwäche der hier gemeinten Erinnerung und die Kraft des kalten Zynismus, der im Ruf nach Vergessen liegt, damit der Mensch sich endlich wieder zurechtfinden könne. So geistern Autismen durch unsere hochtechnologischen Gesellschaften; Wirtschaftsforscher und Analysten, diese modernen Prediger und Trostspender, sprechen ohne zu erröten von "Humankapital" und meinen den kümmerlich wirtschaftlichen Restbestand dessen, was vordem als Mensch gelten sollte; gleichzeitig taucht ein rabiater Globalkapitalismus auf, der den Sozialismus beseitigt hat, die Politiker aller Farben wie Ministranten auf die Knie zwingt und eine Haltung mit sich bringt, die in Grundzügen derjenigen des Nationalkapitalismus des Dritten Reichs gleicht; dem wieder entspricht, dass der Körperkult von heute bildergleich dem der 30er Jahre ist; und weil der kranke, der behinderte, der alte Mensch die Desginer-Idylle der Laufstege stört, wird unter dem schmucken Fremdwort der Euthanasie die Liquidation des so genannten unwerten Lebens herbeigeredet. Und all dem sieht man zu wie ein Voyeur, als hätte das alles Unterhaltungswert - oder wenigstens Stimulationswert für die Langeweile.

Widerstand dagegen kommt aus Erinnerung, Zustimmung aus Vergessen. Rebellion entstammt dem Gedenken der Ermordeten, Realismus der distanzierten Beobachtung. Erinnerung aber hat nichts mit Rhetorik zu tun, sondern mit Wachsamkeit für heute und morgen, damit es nicht wieder Nacht wird und viele sagen können: Ich hab nichts gesehen ...

Der Autor ist Professor für Fundamentaltheologie an der Kath.-Theolog. Fakultät Wien.

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