Giovanni di Lorenzo: "Beten ist das letzte Tabu"

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"Die Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo über sein sehr persönliches Buch "Wofür stehst Du?“, den Besuch Papst Benedikts XVI. und die neue Bekenntnislust deutscher Zeitungsmacher.

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"Die Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo über sein sehr persönliches Buch "Wofür stehst Du?“, den Besuch Papst Benedikts XVI. und die neue Bekenntnislust deutscher Zeitungsmacher.

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Es ist ein ungewöhnliches Buch, mit dem Giovanni di Lorenzo und Axel Hacke seit Monaten auf Lesereise gehen. Ungewöhnlich deshalb, weil der in Rimini aufgewachsene, katholische Chefredakteur der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit und der aus Braunschweig stammende, agnostische Schriftsteller und SZ-Kolumnist darin endlich über etwas schreiben, was sie in ihrer Freundschaft stets ausgeklammert hatten: ihre Werte. Vor seiner letztwöchigen Lesung im Wiener Stadtsaal empfing di Lorenzo DIE FURCHE im Café Sacher zum Gespräch.

DIE FURCHE: Herr di Lorenzo, Sie haben als Chefredakteur der liberalen "Die Zeit‘ publik gemacht, wofür Sie persönlich stehen. Wie hoch war dieses Risiko?

Giovanni di Lorenzo: Hoch. Ursprünglich sollte das Buch ja viel essayistischer werden, doch dann haben wir gemerkt: Wenn wir jetzt nichts von uns selber preisgeben, wird es total steril, ja feige. Also blieb uns nichts anderes übrig, als über unsere eigenen Zweifel, Erfolge und Niederlagen zu sprechen. Das habe ich schon als "Hose-Runterlassen“ empfunden. Umso glücklicher war ich darüber, dass in der Rezeption nicht zugeschlagen wurde. Auch die Resonanz war überwältigend: Wir haben es sogar einmal geschafft, Thilo Sarrazin von der Spitze der Bestsellerliste zu verdrängen.

DIE FURCHE: Eine besondere Genugtuung?

Di Lorenzo: Ja. Eigentlich kann man danach nur noch sagen: Und jetzt in Ruhe sterben!

DIE FURCHE: Eine Stelle wurde besonders emotional rezipiert, nämlich Ihr Bekenntnis, dass im Hause di Lorenzo vor dem Essen gebetet wird …

Di Lorenzo: Das ist doch erstaunlich, oder? Es ist heute offenbar leichter, jemanden zu fragen: "Haben Sie guten Sex?“ als "Glauben Sie?“. Hätte ich geschrieben, was ich sexuell bevorzuge, hätte es keine Reaktion gegeben. Aber die bloße Erwähnung der Tatsache, dass bei uns zu Hause stumm bei Tisch gebetet wird, hat diese Reaktionen ausgelöst. Offenbar ist das eines der letzten Tabus.

DIE FURCHE: Ein noch größeres als Ihr Bekenntnis, angesichts des Todes von Johannes Paul II. berührt gewesen zu sein?

Di Lorenzo: Was mich so berührt hat am Tod dieses Papstes, mit dem ich jahrzehntelang größte innere Konflikte hatte, war sein öffentliches Sterben, die Konfrontation mit all dem, was aus unserem Leben hinausgedrängt werden soll. Ich habe angesichts dieser Passage aber immer nur Erstaunen und die neugierige Frage "Warum hast Du das geschrieben?“ erlebt, aber keine Ablehnung.

DIE FURCHE: Die hat es dafür im August 2010 gegeben, als Sie in Ihrer "agnostischen, bestenfalls protestantischen“ Zeitung, wie Sie einmal erklärten, die Seite "Glauben & Zweifeln“ eingeführt haben …

Di Lorenzo: Ein Leser war so erbost, dass er uns Fäkalien geschickt hat!

DIE FURCHE: Kam die Initiative zu diesem neuen Ressort von Ihnen selbst?

Di Lorenzo: Ja, auch der Name "Glauben & Zweifeln“, weil es um beides gehen soll: Der Zweifel ist schließlich eine erwachsene Form, sich mit dem Religiösen auseinanderzusetzen. Ich finde es spannend, sich gegenüber diesem Thema, dieser Sinnsuche zu öffnen. Aber ich habe gewiss nicht die Mission, als Katholik aus der Zeit ein anderes Blatt zu machen.

DIE FURCHE: Wie haben Sie als Katholik den letztwöchigen Besuch des Papstes in seiner Heimat Deutschland erlebt?

Di Lorenzo: Papst Benedikt XVI. hat viele grundlegende und auch verständliche Worte gesprochen. Nur nicht die, die sich viele erhofft hatten. Aber eine Haltung hat er durchaus gezeigt.

DIE FURCHE: ,Die Zeit‘ hat im Vorfeld die Fragen Prominenter an den Papst abgedruckt. Welche Frage hätten Sie ihm gestellt?

Di Lorenzo: Warum hält meine Kirche an Dingen wie dem Zölibat fest, auch wenn sie erkennbar unglücklich machen?

DIE FURCHE: Haltungslosigkeit, die man der katholischen Kirche ja nicht gerade vorwerfen kann, ist laut Ihrem Buch ein typisches Charakteristikum des heutigen, ambivalenten Menschen. War es früher besser?

Di Lorenzo: Vorsicht, wir schreiben an keiner Stelle, dass Ambivalenz Haltungslosigkeit bedeutet. Aber über Ihre Frage haben sich Axel Hacke und ich im Buch tatsächlich gestritten. Ich finde, früher war gar nichts besser. Denken Sie nur daran, welche unheilstiftende Wirkung dem Fernsehen zugeschrieben wird. Doch in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, in der es nichts von dem gab, was heute den angeblichen Untergang des Abendlandes ausmacht, sind die grausamsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verübt worden. Erklären Sie mir, was an dieser Zeit besser war? Später, unter der Ost-West-Teilung, gab es diesen kategorischen Imperativ: Du musst dich politisch entscheiden, rot oder schwarz! Und es gab in den politischen 60er- und 70er-Jahren unfassbare Verirrungen - die Umwandlung von Idealismus in Grausamkeit und Gleichgültigkeit. Angesichts dessen kann man heute allzu forschen politischen Bekenntnissen nicht ohne Ambivalenz begegnen.

DIE FURCHE: Und doch scheint Bekennertum unter Deutschlands Zeitungsmachern gerade en vogue zu sein. Sie bekennen sich zum Gebet, und Frank Schirrmacher bekennt angesichts der momentanen Schuldenkrise in der, FAZ‘ seine Sorge darüber, ob am Ende gar die Linke recht gehabt haben könnte …

Di Lorenzo: Ich halte Schirrmacher für den begabtesten und brillantesten Interventionisten Deutschlands. Die Leser erwarten heute Persönlichkeiten, mit denen sie sich identifizieren oder an denen sie sich reiben können. So ein verstörendes Bekenntnis setzt viel in Gang, wobei Schirrmachers Text in der Zeit sicher leichter zu verdauen gewesen wäre als in der FAZ. Das war ja so, als ob Sie im Rheinischen Merkur die Existenz der Madonna anzweifeln würden.

DIE FURCHE: Und: Hat die Linke recht gehabt?

Di Lorenzo: Ich glaube nicht, dass die klassische marxistische Analyse recht hatte, aber ich halte es für möglich, dass wir in nicht allzu langer Zeit auf die Phase zwischen 2000 und 2020 zurückschauen und uns fragen: In welch irrem System haben die Menschen damals gelebt?

DIE FURCHE: Angesichts der Krise haben deutsche Millionäre in Ihrer Zeitung dazu aufgerufen, sie höher zu besteuern. Ist das eine Initiative nach Ihrem Geschmack?

Di Lorenzo: Ja, wo immer Menschen aufhören zu jammern und einfach sagen "Ich mach was!“, halte ich das für einen Fortschritt. Uns in Deutschland ist das Bewusstsein darüber verloren gegangen, was an diesem Land gut ist. Vielleicht muss man wie ich von außen kommen, um das überhaupt noch wahrzunehmen. Wenn ich aus Italien zurückkomme, hätte ich oft Lust, an der deutschen Grenze wie weiland Papst Johannes Paul II. den Boden zu küssen. Wir leben in einem Land mit hoher Transparenz, wo jemand, der in der Politik einen Fehler macht, in der Regel hart bezahlen muss. Das ist auch ein Unterschied zu Österreich. Mir geht das manchmal sogar zu weit. Umso weniger akzeptiere ich es, wenn so wenige meiner Generation in die Politik gehen, aber umso mehr alles in Bausch und Bogen herunterschreiben oder -reden.

DIE FURCHE: Würden Sie selbst denn in die Politik gehen?

Di Lorenzo: Für mich war die Tatsache, Chefredakteur des Berliner Tagesspiegel und dann der Zeit zu werden, reizvoller als jede politische Perspektive. Ich habe als 19-Jähriger den Journalismus wie eine Berufung erfahren - und nun lebe ich zölibatär mit diesem Beruf.

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