Kirche, was sagst du von dir selbst?

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Die Konzilskonstitution "Lumen Gentium" ist der "Verfassungstext" einer Kirche, die sich als "Mysterium" und "Volk Gottes" versteht.

In der dramatischen Diskussion um den vorbereiteten Entwurf für ein Konzilsdokument über die Kirche am Ende der ersten Sitzungsperiode 1962 des II. Vatikanums bringt Kardinal Montini die Ausrichtung des Konzils auf den Punkt. Kirche - was sagst du von dir selbst?

Eine "Verfassung" der Kirche

Wenige Monate später charakterisiert er als Papst in der Eröffnungsrede zur zweiten Sitzungsperiode die Aufgabe, welche Johannes xxiii. den Konzilsvätern gestellt hatte, konkret: Die Stunde sei gekommen, "in der mehr und mehr die Wahrheit über die Kirche Christi erforscht, geordnet und ausgedrückt werden muss", nicht mit dogmatischen Definitionen, sondern erläuternd und erklärend. Und dies in größter Offenheit und Treue "gegenüber den Worten und Gedanken Christi", der gesamten Tradition und "in der Gelehrigkeit gegenüber der inneren Erleuchtung des Heiligen Geistes".

Bei seiner Schlussansprache am 7. Dezember 1965 spricht Paul vi. davon, dass die Kirche als Jahrhunderte alte Religionsgemeinschaft eine "Reflexion über sich selbst" angestellt habe, "um sich besser kennen zu lernen, sich klarer zu umschreiben (definire) und um "in sich selbst, in ihrem Leben und Wirken im Heiligen Geist das Wort Christi besser zu verstehen und tiefer in ihr Geheimnis einzudringen". Paul vi. spricht vom "Bild der Kirche", von der "wesentlichen Ordnung", die vom Konzil vorgezeichnet worden ist.

Was ist das Ergebnis dieser Arbeiten, die der Papst so charakterisiert?

Wie die Regel des Hl. Benedikt die Konstitution benediktinischen Lebens ist, der Verfassungstext dieser Klöster seit mehr als 1500 Jahren, so bilden die Texte des II. Vatikanischen Konzils, konzentriert um die beiden großen Kirchenkonstitutionen "Lumen Gentium" und später dann "Gaudium et Spes", das konstitutionelle Textcorpus der katholischen Kirche.

Hier sind die Prinzipien niedergelegt, die grundlegenden Bereiche und Ordnungen umrissen, die das innere geistliche wie das institutionelle Gepräge der Kirche bestimmen. Es geht dem Konzil nicht um eine Abfolge von Definitionen und um ausgefeilte theologische Synthesen oder ins Einzelne gehende Rechts- und Verwaltungsordnungen. Es geht dem Konzil um die prinzipiellen Aussagen, wie sie in konstitutionellen Texten zu finden sind. Sie enthalten die grundlegenden Regeln, die wesentliche Ordnung, die jeweils im vernünftigen Miteinander der unterschiedlichen Organe der Kirche und ihrer Lebensvollzüge umzusetzen ist.

Hochkomplexe Wirklichkeit

Veranschaulichen wir dies an der Kirchenkonstitution "Lumen Gentium" (lg). Es wird ein hochkomplexes Bild der Kirche gezeichnet, das Kirche jeweils auf unterschiedlichen Ebenen charakterisiert. Kirche ist eine so facettenreiche, vielschichtige Wirklichkeit, dass sie nicht von einem Gesichtspunkt aus - gleichsam systematisierend - dargestellt werden kann.

Kirche ist grundlegend Mysterium (LG 1), das heißt, Wirkung und Ausprägung des Heilsratschlusses Gottes. Sie gründet in Gott, der so den Sinn der Schöpfung und der Geschichte für den Menschen enthüllt. Der Sinn des Daseins liegt in der vollendeten Kommunikation mit dem Vater, vermittelt durch sein Wort und dessen Fleischwerdung, geleitet durch das Wirken des Geistes Gottes selbst. Alle Menschen gehören in diesen Heilsratschluss hinein und stehen in unterschiedlicher Nähe dazu.

So wird die Gliedschaft in der Kirche und die Zugehörigkeit der Menschen in unterschiedlichen Näherungsgraden bestimmt (lg 14-16). Der Blick auf die Kirche aus der Perspektive des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes wird ergänzt durch eine komplementäre Sichtweise: der Ratschluss Gottes schlägt sich jeweils nieder in Gestalten, die das Volk Gottes in der Geschichte annimmt, bis hin zur Fülle der Offenbarung im Christusereignis. Das Volk Gottes ist aktives Subjekt in dieser Geschichte (lg 9). So ist Kirche nicht zu verstehen ohne das alttestamentliche Gottesvolk, ohne die Bezugnahme auf die mannigfachen Gestalten von Kulturen und Religionen, in denen sich in einer verborgenen Weise etwas von der Wahrheit dieses Heilsratschlusses Gottes meldet. Lumen gentium bildet mit seinen ersten beiden Kapiteln die theologische Basis für die Aussagen über den Dialog der Kirche mit den verschiedenen Religionen, mit dem jüdischen Volk.

Kirche: Welche Institution?

Weil Kirche grundlegend Mysterium, Volk Gottes, ist, ist die Reduktion von Kirche auf den neuzeitlichen Begriff der "Konfessionskirche" zu eng. Das Bemühen um die wieder zu erlangende Einheit mit den Kirchen des Ostens und den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die aus der Reformation hervorgegangen sind, ist eine wesentliche Herausforderung. Nur als Mysterium und messianisches Gottesvolk unter den Völkern vollzieht die Kirche ihren Auftrag, die Sendung Jesu Christi in der Geschichte zu leben. Das Volk Gottes bildet ein königliches Priestertum.

Zu dieser Sendung gehört es selbstverständlich auch, dass die Kirche sich in institutioneller Gestalt artikuliert. Kirche ist als Institution zwar identisch mit der Kirche als Mysterium bzw. als Volk Gottes. Wie aber jede Institution im Dienst der Sache steht, der die institutionellen Strukturen Ausdruck verleihen und nutzen, so ist Kirche als rechtlich verfasste Organisation herausgefordert, die eigenen Strukturen jeweils so zu gestalten, dass sie dem Wesen, dem Mysterium der Kirche, dem Volk Gottes unter den Völkern dienlich sind. Bei aller wesentlichen Identität kann man nicht von einer Deckungsgleichheit beider Gestalten von Kirche-Sein sprechen.

Die Amtsträger der Kirche stehen wesentlich im Dienst des Volkes Gottes, das durch ihre Dienstleistungen frei und geordnet seiner Sendung nachkommen soll (lg 18). Sie empfangen ihre Vollmacht und Autorität von Christus her, um diesem Volk Gottes, das vom Herrn selbst in der Geschichte konstituiert ist, zu Wachstum, Lebendigkeit und zum Vollzug seiner großen Aufgaben zu verhelfen.

Der hier zur Verfügung stehende Raum reicht nicht, um die anderen Perspektiven und Ebenen zu charakterisieren, auf denen in Lumen gentium die Kirche vor den Blick kommt. Ich kenne kein theologisches Handbuch vor und nach dem Konzil, das Kirche in dieser Komplexität gekennzeichnet hätte.

Eine bleibende Aufgabe

Handelt es sich bei Lumen gentium um einen konstitutionellen Text, einen Text mit Verfassungscharakter, so stellt sich die Aufgabe, angesichts sich verändernder Zeiten, neuer Probleme und notwendiger Entscheidungen jeweils daran Maß zu nehmen. Es ist nicht mit der Anfertigung eines neuen Kirchenrechts 1983 getan. Es bedarf der je neuen Ausbalancierung der Prinzipien, etwa von Primat des Papstes und Kollegialität der Bischöfe. Beide Momente sind wichtig für die Ausgestaltung der sichtbaren Kirche. Ein Gleiches gilt für das Verhältnis der Ortskirchen und der Universalkirche, der Frage nach der Ausrichtung des Ministeriums der Kirche wie der angemessenen Balance zwischen den Initiativen der Laien und ihrer Sendung auf der einen Seite und der korrespondierenden Bestimmung der Leitungskompetenzen der Bischöfe auf der anderen Seite.

Die Rezeption in den zurückliegenden vier Jahrzehnten diente weitgehend jener unmittelbaren Umsetzung von Konzilstexten, die eindeutig Änderungen verlangten. An den ständigen Umgang mit einem Verfassungstext als orientierendem Maßstab muss sich die Kirche erst noch gewöhnen.

Der Autor ist em. Professor für Dogmatik an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Tübingen.

Nächste Woche: V. DAS KONZIL UND DIE ÖKUMENE. Der Tübinger Dogmatiker Bernd-Jochen Hilberath über den ökumenischen Auftrag des Konzils.

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