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Das große Mißverständnis

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- Die Wiener Hauptschulmisere dieser Tage war ein Symptom. Zweieinhalb Jahrgänge ausgebildeter Junglehrer sind arbeitslos, zwei Drittel der Schüler erhielten jetzt in Wien nicht den ganzen und regelmäßigen Unterricht. Die 10 Millionen Schilling Aufwand, um dieser Kalamität zunächst zu steuern, waren nicht bewilligt. Die Staatstinanz erklärte: Diese Summe müsse für „produktive“ Arbeiten reserviert bleiben. Es ging nicht um diese 10 Millionen und nicht um die Person des Finanzministers, sondern um die Tatsache, daß sich ein schreckliches Mißverständnis in unsere öffentliche Gebarung eingeschlichen hat und an vielen Stellen sichtbar wird, das Mißverständnis, daß Schule und Kultur, Bildung und Wissenschaft nichts Erstrangiges, vital Lebenswichtiges sind, sondern vielmehr “eine Art Schmuck und Zier für „gute Zeiten“, aber nichts für eine Gegenwart, da es fruchtbare Werte schaffen heißt.

Lassen wir, als Glieder eines Landes, das seine Toten bisweilen ehrt, der. Lebenden aber wenig achtet, das aber bis jetzt doch einigermaßen empfindlich auf Eindrücke im Ausland reagiert, uns von seiner Presse einige bittere Tatsachen der österreichischen Wirklichkeit vorhalten: „Der Wiener Universitätszeitung zufolge verdienen die norwegischen Ordinarii um 340 Prozent, die a. o. Professoren um 428 Prozent, die Assistenten um 304 Prozent mehr als ihr Kollegen in Österreich. Selbst die deutschen Hochschullehrer stellen sich noch um das Zweieinhalbfache besser als die österreichischen.“ Niemand will unter diesen Umständen nach Österreich. „Man verhandelt mit dem billigsten. Das Land der Wasserkräfte, das heute seine Energieschätze mit Hilfe der ERP-Gelder zu einem Exportfaktor ersten Ranges aufbaut, hat bisher keinen geeigneten Mann finden können, der seinen Wiener Lehrstuhl für Energiewirtschaft vorstehen will. Denn, was hier ein Professor im günstigsten Fall verdienen könnte, ist so viel wie ein Monatslohn der meisten Arbeiter auf den hochgelegenen Bauplätzen von Kaprun.“ 105 neue Lehrstühle werden von den Professorenkollegien gefordert, zwei sind im vergangenen Jahr errichtet worden. „Die Dotationen der Institute sind so gering, daß der Bezug einer einzigen amerikanischen Fachzeitschrift den verfügbaren Betrag übersteigen würde.“ „Rund 4000 wissenschaftliche Manuskripte liegen in Österreich noch unveröffentlicht in den Schubladen.“

„Unproduktive Arbeit!“ An diesem lebensgefährlichen Aberglauben krankt die Staatsfinanz und demzufolge das Budget des Unterrichtsministerirjns. Im Spätherbst soll nun unter Patronanz allerhöchster. Behörden eine „österreichische Kulturwoche“ stattfinden. Man muß leider voraussehen, daß sie ein Schlag ins Wasser werden wird, wenn nicht vorher in einer umfassenden Absprache zwischen den Parteien und der Regierung der Sinn dieser Feste, Feiern, Reden und Ausstellungen geschaffen wird durch eine praktische Vorsorge für die Kultur. Produktion der Wirtschaft, der Industrie und Agrikultur ja! Diese fußt aber auf der Kapazität der Produzenten. Gibt es etwas Produktiveres, als Menschen bilden, in Volks-, Haupt-, Oberschule und Universität, Menschen, auf deren Arbeitsethos und deren manuellen und geistigen Fähigkeiten alles ruht, was wir schaffen? Müssen -wir „Idealisten“ und „Christen“, wir „Humanisten“ und „Abendländer“ es uns bis zum Überdruß täglich vorrechnen lassen, wie sehr der Prozentsatz der Ausgaben für kulturelle und wissenschaftliche Zwecke in den faschistischen Staaten und in den Ländern der Völksdemokratie zu unsern Ungunsten steht? Diese Tatsache ist leicht ablesbar, etwa am Etat eines Wiener Universitätsinstituts, der heute 1000 Schilling beträgt gegenüber 100.000 RM und mehr im Dritten Reich. Man komme uns nicht mit dem tristen Schlagwort: „Es ist eben kein Geld da, das können wir uns nicht leisten!“ Geld ist immerda, wenn eine Sache eben einer Ausgabe wert ist.

Die Herbstaffäre um die Wiener Schulen ist ein Warnsignal. Verstehen wir seine Spräche. Nehmen wir unseren kulturellen Notstand ernst. Nehmt die Leistung der geistigen Arbeiter, Lehrer, Forscher, Intellektuellen und Künstler ernst! Es steht viel auf dem Spiel: Österreichs einzige große Position in der Welt.

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