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Das Problem des Musischen

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Wenn man Bildung in Respektierung der angezeigten Momente als Orientierung in der menschhetlichen Kultur und als Bereitschaft, diese als Aufgabe zu übernehmen, begreift, dann wird das Musische nicht mehr als einziger Zauberschlüssel zur „Bildung“ neben oder gar vor der Wissenschaft angesehen werden können. Man unterstelle mir nun nicht eine Animosität gegen das Musische. Es geht mir vielmehr darum, seinem Mißbrauch entgegenzutreten, vor allem, wenn sich Denkfaulheit hinter falscher Erbaulichkeit im Hinweis auf das Musische zu verbergen sucht. Sofern es in der Grundschulung als notwendiges Moment des Menschseins nicht ausge- klammert werden kann, wird gerade in der Lehrerbildung eine rationale Analyse der Konstitution des Kunstwerkes und des Kunstschaffens selbst notwendig, also philosophische Ästhetik, Kunstgeschichte, Musiktheorie, Kunstpsychologie und so weiter. Bloß mit dem Flechten von Körbchen und dem Erlernen des Akkordspiels auf der Gitarre jedenfalls wird der musischen Bildung kein hinreichender Dienst erwiesen.

Politische Urteilsfähigkeit

Auf keinen Fall darf Lehrerbildung, gleich welcher Provenienz, die gesellschaftskritische und politische Bildung vergessen. Ein demokratisches Staatswesen kann nicht mit Opportunisten und Jongleuren der Anpassung existieren, die sich allen Mehrheitsverhältnissen und obrigkeitlichen Erwartungen kritiklos zur Verfügung stellen. Deshalb muß politische Bildung die politische Urteilsfähigkeit zum Ziel haben und nicht nur einen Kanon staatsbürgerlichen Wissens vermitteln, sondern mit der Information; darüber die kritische Auseinandersetzung verbinden. •

Auf jeden Fall kann man die pädagogische Aufgabe am treffendsten als permanente Aufklärung definieren, das ist — kantisch gesprochen — der „Aüsgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", indem er mehr und mehr lernt, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen", von seiner „Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen“.

Über die praktische Relevanz, noch deutlicher: über die gesellschaftlich- praktische Relevanz dieser Konzeption braucht wohl kein Wort mehr verloren zu werden. Eines ist sicher: Mit „didaktischen“ Regeln und Rezepten wird der Bezug zur Schulwirk- lichkeit nur in einem degeneriert- kraftlosen, technischen Verständnis von Praxis hergestellt. Für die schulpraktdsche Einführung muß eine neue, effektive Form gefunden werden. Man wird hier eine Vorbereitungszeit nach dem Studium ins Auge fassen müssen. Die Hochschule jedenfalls, gleich ob in alter oder neuer Gestalt, kann den berufsfertigen Lehrer nicht produzieren.

Wegweiser zu pädagogischer Führung

Man sollte nicht angesichts solcher, scheinbar hochgegriffemer Forderungen in einer gewissen Kurzsichtigkeit eine Verletzung der gesamtgesellschaftlichen Interessen oder etwa eine Verstärkung des akuten Lehrermangels befürchten. In der BRD hat sich längst bewiesen — auch das darf angemerkt werden — daß die Akademisierung der Lehrerausbildung dem Lehrermangel entgegenwirkt, weil die Hochschule mit wissenschaftlichem Niveau mehr und qualifiziertere Maturanten anzieht.

Motiviert wird diese unsere Stellungnahme durch den bei allen Pluralismen entstandenen Konsens in der Wertschätzung der Wissenschaft als dem nicht mehr wegzudenkenden Stützpfeiler unserer Kultur. Da Wissenschaft selbst den Wahrheitswert für uns repräsentiert, vermag sie in einem entscheidenden Punkt der Bildung des Menschen aufzuhelfen.

Wenn der Lehrer der Jugend den Weg zu einem menschenwürdigen Leben zeigen soll, ihr helfen muß, dieses Leben autonom und sittlich, selbständig und verantwortlich zu führen, dann kann er auf Wissenschaft nicht verzichten. Sie muß ihm den Weg pädagogischer Führung zeigen. Eine Wissenschaft allerdings, die die Anstrengung des Begriffs nicht scheut, die nach der Wahrheit als ihrem letzten Prinzip fragt, und daraus Kraft zu kritischem Urteil und verantwortlicher Entscheidung gewinnt.

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