Moskauer Metro - © Foto: iStock / igoriss

Chancenlose Helden

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Sergej Lebedew malt in seinem neuen Roman „Kronos’ Kinder“ ein großes Historiengemälde und erzählt vom Aufkeimen des Nationalismus und dessen schwerwiegenden Folgen für das 20. Jahrhundert.

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Sergej Lebedew malt in seinem neuen Roman „Kronos’ Kinder“ ein großes Historiengemälde und erzählt vom Aufkeimen des Nationalismus und dessen schwerwiegenden Folgen für das 20. Jahrhundert.

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Der Mensch in der Geschichte ist das Leitmotiv des 1981 in Moskau geborenen Sergej Lebedew. Der August-Putsch gegen Gorbatschow in „Menschen im August“ und die Welt des GULag in „Der Himmel auf ihren Schultern“ waren Themen seiner bisherigen Bücher. Auch diesmal versucht er zu ergründen, welche Spiel- und Handlungsräume seinen Helden eigentlich bleiben. Wie es sein kann, dass sich die gesellschaftlichen Bedingungen so radikal ändern, dass der Einzelne plötzlich vor einem existentiellen Abgrund steht.

Lebedew beschreibt in seinem jüngsten Roman „Kronos’ Kinder“ die Geschichte eines jungen Russen namens Kirill, der eines Tages erkennen muss, dass mit seiner Biographie etwas nicht in Ordnung ist. Seine geliebte Großmutter Lina war Deutsche. Sie entstammte einer deutschen Familie, die es im zaristischen Russland zu Ansehen und Wohlstand brachte. Wollte man mit diesem doppelten biographischen Makel (deutsch und bürgerlich) in der Sowjetunion überleben, musste man sich eine Tarnung zulegen, die diese Vergangenheit zum Verschwinden brachte. Was bei der ständigen Bespitzelung schwerfiel – und so wurde ihre gesamte deutsche Verwandtschaft als vermeintliche Spione, Spitzel und Kollaborateure Opfer des kommunistischen Systems.

Pastoser Farbauftrag

Der Held des Romans begibt sich auf die Spuren der deutschen Vorfahren, beginnend mit einem Arzt und Homöopathen, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Russ­land sein Glück versuchte. Erzählt wird eine Erfolgsgeschichte, wie sie im Russland jener Tage gar nicht so selten war. Schon in der zweiten Generation stellt sich wirtschaftlicher Erfolg ein. Gustav Schwerdt reüssiert als Stahlindustrieller, der am wirtschaftlichen Aufschwung Russlands am Ende des 19. Jahrhunderts teilhat. Die Katastrophe beginnt 1914 mit dem Ersten Weltkrieg. Die Nationalität wird zum Problem. Mit Kriegsende 1945 gibt es von dieser großen Familie genau eine ­Überlebende: die Großmutter des Helden.

Sergej Lebedew malt das große Historien­gemälde, und er malt es mit pastosem Farbauftrag. Eine der eindrucksvollsten Szenen findet sich gleich zu Beginn des Buches: Hier führt uns der Autor in einen Moskauer Vorort, in dem ein Veteran des Großen Vaterländischen Krieges (also des Zweiten Weltkrieges) jedes Jahr den Tag seiner Verwundung mit einem unvorstellbaren Alkoholexzess begeht. Der Schmerz des Veteranen ist jedem in der Siedlung heilig und so lässt man ihn gewähren. Erst als der volltrunkene Greis mit seinem Gewehr in eine Gänseschar schießt, in der er heranrückende deutsche Truppen erkennt, wird er von einer beherzten Nachbarin mit einem Kübel kalten Wassers gestoppt. Als der junge Kirill, der zu diesem Zeitpunkt von seinen deutschen Vorfahren mehr ahnt als weiß, diese absurde Szene beobachtet, muss er erkennen, dass er seines Lebens nicht mehr sicher ist, dass hier Existentielles berührt wird und dass er sich – unschuldig schuldig – über seine persönliche Geschichte klar werden muss.

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