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Ketzereien eines Sowjetbürgers

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Der Leser der beiden Kurzromane „Die blaue Fliege“ und „Rot und SOhwarz“ wundert sich kaum, daß diese überaus gescheiten, bissagen aber auch traurigen Satiren in der Sowjetunion nicht erscheinen durften. Der Autor Valerij Tarsis kritisiert die Zustände in der nach-stalinistischen Ära — mit unmißverständlichen Anspielungen auf Chruschtschow persönlich — hart und unnachsichtig, mit tödlicher Sicherheit die wundesten Punkte des Regimes treffend. Kein Wunder also, daß das vom Autor illegal aus Rußland geschmuggelte Manuskript, das 1962 erstmalig in England veröffentlicht wurde, weltweites Aufsehen erregte. Tarsis mußte seinen Wagemut mit der Einlieferung in ein Irrenhaus büßen. Wie der Autor selbst feststellt, gibt es für diese Behandlung „eine solide Tradition“ in Rußland, und das Rezept scheint inzwischen auch anderswo Schule zu machen, man denke nur an den Fall des Hiroshima-Piloten Eather-ley.

Aber zurück zu Tarsis. Er hat den Zorn der sowjetischen Machthaber nicht nur wegen der Veröffentlichung seines Buches Im Westen erregt, sondern mehr noch wegen seiner offenen Attacken gegen das Regime. In der „Blauen Fliege“ gilt sein Angriff besonders dem „bürokratischen Leviathan“, der, wie er sagt, die Menschen heute nicht weniger versklavt als zur Zeit der Zaren. Der Philosophieprofessor Si-nemuchow, die Hauptfigur der ersten Satire, scheut sich auch nicht, nachdem er einmal aus den gelenkten Bahnen ausgebrochen ist, die geheiligten Dogmen des Marxismus in Frage zu stellen, ja zu behaupten, „daß sich heute kaum jemand vorzustellen vermag, was Kommunismus und Sozialismus eigentlich ist...“ Für den Professor gehört dazu „der Weg zu den Menschen“, und er wirft dem System vor, dem einzelnen das persönliche Glück des Augenblicks zu verwehren, ihn mit einer imaginären „besseren Zukunft“ zu vertrösten.

In dem zweiten Stück, „Rot und Schwarz“, geht Tarsis noch einen Schritt weiter insofern, als er von einer ganz persönlichen seelischen Tragödie berichtet, die sich der Professor Abrikosow leistet in einer Welt, die das Gefühlsleben auszuschalten oder doch wenigstens zu normen trachtet.

Daß er einen wahren Stendhal-Kult betreibt, wäre schon anrüchig genug. Wieviel schlimmer aber ist seine Verliebtheit in die unglückliche Liebe zu seiner schönen, herzlosen Frau Rimma, die von Ihrem Mann etwas ganz anderes will: nämlich äußere Sicherheit und Wohlleben! So versinkt der unglücklichglückliche Professor immer tiefer in Einsamkeit, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit.

Tarsus entwickelt ein Welt- und Menschenbild, das dem marxistischen strikt zuwiderläuft. Man kann ermessen, welche Beunruhigung Tarsis' Enthüllungen bei den offiziellen sowjetischen Stellen auslösen mußten, was freilich die Fragwürdigkeit ihres Eingreifens nicht schmälert.

Tarsis hat nach seiner Entlassung aus der Nervenheilanstalt im Jahre 1963 ein zweites Buch geschrieben, das wiederum ins Ausland wanderte und jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt, der bald weitere in anderen Sprachen folgen sollen. Diese „Botschaft aus dem Irrenhaus“ kann man nur mit Trauer lesen, nicht allein wegen der furchtbaren Erfahrungen, von denen berichtet wird, sondern mehr noch, weil aus den Aufzeichnungen der blanke Haß spricht.

Nach seiner Schilderung gibt es in der Sowjetunion, abgesehen von den fanatischen Parteifunktionären, nur unzufriedene, unglückliche Menschen. Wie soll man damit die sehr anderen Eindrücke von ausländischen Besuchern in Einklang bringen?

Tarsis' Antwort auf solche Widersprüche, daß Ausländer auch heute noch in Rußland nur Potemkinsche Dörfer zu sehen kriegen, ist doch etwas zu billig. Oder diese fixe Idee, Chruschtschows Regime sei noch schlimmer gewesen als das Stalins. Man steht vor einem Rätsel, wie der gleiche Mann zwei Bücher von so unterschiedlichem Rang—in menschlicher und in künstlerischer Hinsicht — schreiben konnte, und kommt zu dem bedrückenden Schluß, daß in der Nervenheilanstalt etwas Furchtbares in der Seele des Autors vor sich gegangen sein muß, daß Tarsis heute ein gebrochener Mann ist. Wie sehr wünschte man, daß er wieder der alte wird, der so sicher fühlte, daß Liebe mehr ausrichtet als Haß — auch gegenüber dem Verabscheuungswürdigen!

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