"Das war doch keine Befreiung!"

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Am 27. Jänner wird der 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz begangen. Für Marko M. Feingold begann 1938 in Auschwitz der Leidensweg durch mehrere Konzentrationslager, bis er in Buchenwald befreit wurde. Im Furche-Gespräch hinterfragt er die "Befreiung" von Auschwitz und den Umgang Österreichs mit seinen ehemaligen KZ-Häftlingen.

Die Furche: Haben Sie geglaubt, dass Sie Auschwitz überleben werden?

Marko Feingold: Nein! Das konnte man nicht. Es sind unheimliche Dinge geschehen, dass ich am Leben geblieben bin. 1943 verkündete Himmler: Kein lebender Häftling darf den Alliierten in die Hände fallen. Also man hat gewusst: Irgendwann kommt man dran. Nur: Wie man umgebracht würde, das stand in den Sternen.

Die Furche: Wie sind Sie aus Auschwitz herausgekommen?

Feingold: Ich war schon das, was man in Auschwitz einen "Muselman" nannte: abgezehrt, unter 30 Kilo, Haut und Knochen. Ich habe so lange gebettelt, bis mich ein Kapo mit meinem Bruder zusammen auf die Liste genommen hat. So bin ich nach Neuengamme gekommen. Aber dort war das Klima der Nordsee, die ständige Feuchtigkeit, der kalte Wind - und kein Gramm Fett am Körper, da spürt man Kälte und Feuchtigkeit viel ärger. Ich zehrte immer mehr ab und war nicht mehr zu halten. Wenn ich ein Glas Wasser getrunken habe, ist das Wasser durchgeschossen wie bei einem Schlauch. Essen konnte ich nicht mehr. Wenn ich mich hinsetze, musste ich zuerst meine Gedärme in den After hineinschieben, weil die Muskulatur nachgelassen hat. Das Einzige, was bei mir noch gearbeitet hat, war das Hirn. So kam ich nach Dachau.

Die Furche: War dort mehr Hoffnung auf Überleben?

Feingold: In Dachau entdeckte der für den Block Zuständige, er kann mich als Dolmetsch verwenden. So ging es mir drei Wochen sehr gut. Dann erfuhr er, dass ich Jude bin und sagte: "Na, einen Juden darf ich nicht verwenden als Dolmetscher." So war es damit vorbei und ich musste in die Gärtnerei hinaus. Damals begann der Russlandfeldzug, die Kost wurde schlechter, Lagerkrankheiten brachen aus - die berüchtigte Phlegmone: Hautentzündungen, die anschwellen und platzen, es kommt zu eitrigen Wunden. Ich hatte eine Riesenwunde in der rechten Kniekehle, sie wurde einfach aufgeschnitten. Danach gab es nur Papierrollen - keine richtigen Verbände, keine Watte. Nach einer halben Stunde war das durch Blut und Eiter wie ein Gipsverband. Ich konnte das Bein nicht mehr ausstrecken. Ich musste so arbeiten gehen - in einer Gärtnerei musste man gebückt arbeiten, und wenn man aufstand, kam jemand von der ss und schlug drein.

Die Furche: Dachau war aber nicht Ihre letzte Station.

Feingold: Mein Glück war, dass ein paar Wochen später ein Invalidentransport nach Buchenwald ging. Aber da musste man am Bahnhof Weimar aussteigen und zwölf Kilometer bergauf gehen. Viele brachen zusammen und wurden erschossen, hinten kamen Lastwagen nach, die die Leichen aufnahmen. Man musste die Zähne zusammenbeißen und da hinaufkommen. In Buchenwald konnten wir nicht mehr versorgt werden und mussten über Nacht am Appellplatz bleiben. Am nächsten Morgen kamen Häftlinge und versuchten zu helfen.

Furche: Haben Sie in Buchenwald von der Befreiung von Auschwitz erfahren?

Feingold: Das war doch keine Befreiung! Die Russen sind gekommen, man hat aber die Häftlinge schon vorher auf Transport geschickt. Eine Unmenge von Häftlingen wurde von Begleitpersonen erschossen oder in Heustadeln untergebracht und angezündet.

Furche: Ist es da überhaupt berechtigt, 60 Jahre Befreiung von Auschwitz zu feiern?

Feingold: Man hat in Auschwitz die Kinder zurückgelassen, die für den Dr. Mengele reserviert waren. Häftlinge in verschiedenen Funktionen waren noch dort. Die Vergasungshallen hatte man ja gesprengt. Man kann das als Befreiung bezeichnen.

Furche: Was hat Sie bewogen, nach Österreich zurückzugehen?

Feingold: Dass mein Vater zu Beginn des Krieges ums Leben kam, habe ich durch meine Schwester erfahren, die in Polen unter falschem Namen gelebt hat. Aber sie war da, und auch mein Bruder, den ich in Neuengamme zurückgelassen hatte. Und dann hatte ich noch einen Bruder, der in Lemberg gelandet ist. Wo soll man die Leute suchen? Nur am Ausgangspunkt. Also musste ich versuchen, nach Wien zu kommen.

28 Nationen waren in Buchenwald - 27 sind von ihren Heimatländern geholt worden, nur die Österreicher nicht. Denn Oskar Helmer und Leopold Figl haben genau gewusst: Wenn die da sind, gibt es Streit mit den Nazis. Dass wir so unbeliebt sind, haben wir damals noch nicht gewusst; wir waren sicher, wir würden mit Musik empfangen werden.

Furche: Und wie war es wirklich?

Feingold: Zuerst sind wir in Buchenwald bei den Amerikanern vorstellig geworden. Es wurden drei Kleinbusse der Verkehrsbetriebe von Weimar konfisziert, damit sind 128 von den 500 österreichischen Häftlingen Richtung Wien gefahren. So landeten wir an der Enns - und die Russen ließen uns nicht durch. Unter uns waren etliche Kommunisten, auch solche, die Russisch konnten. Aber es war nichts zu machen. Die Amerikaner bekamen vom General in Linz den Auftrag, uns nach Buchenwald zurückzubringen. Einige sind gleich nicht eingestiegen und haben sich irgendwie verdrückt. Bei jeder Stadt, durch die wir zurückgefahren sind, sind ein paar ausgestiegen: Linz, Wels, Attnang-Puchheim und Salzburg.

Furche: Liegt es am Antisemitismus, dass so wenige Juden in Salzburg geblieben sind?

Feingold: Ja, speziell in Salzburg. Wir sind das Bundesland, das heute über die wenigsten Juden verfügt, obwohl hier nach 1945 die meisten waren. Und ein Zuzug ist nicht möglich. Ich habe viele offizielle Einladungen. In jeder Rede, die ich mir anhören muss, wird ein Jude zitiert; selbst die Kirche verzichtet nicht auf Martin Buber. Aber haben wollen sie keinen. Als Dirigent ja: Komm, mach deine Arbeit, nimm das Geld und hau ab! Aber hier bleiben - nein.

Furche: Haben Sie in den 60 Jahren von der Republik Österreich je ein Signal oder das Gefühl vermittelt bekommen, dass es gut ist, dass sie da sind?

Feingold: Nein! Auszeichnungen noch und noch, doch die habe ich bekommen, weil ich für das Judentum hier tätig bin, aber nicht im Interesse Österreichs - so ist es nirgends ausgedrückt.

Das Gespräch führte Cornelius Hell.

Von Auschwitz erzählen

Gebügelte Hosen, feste Schuhe und ein (wieder) gut aussehender Mann - ein Foto aus Buchenwald, aufgenommen etwa drei bis vier Wochen nach der Befreiung und vor der Rückkehr nach Österreich. Marko M. Feingold, 1913 in Neusohl (heute Slowakei) geboren, ist in Wien aufgewachsen und hat in seiner Jugend längere Zeit in Italien gelebt. 1938 wurde er in Wien verhaftet, konnte nach Prag und nach Polen fliehen, wurde in Prag erneut verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Über Neuengamme bei Hamburg und Dachau kam er nach Buchenwald, wo er 1945 befreit wurde. Seit 1945 lebt er in Salzburg, wo er jüdischen Überlebenden half - oft auch bei abenteuerlichenReisen über Italien nach Palästina. Später wurde er Inhaber eines Modegeschäfts. Seit 1977 ist Feingold Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Salzburg. Im Buch "Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh" (Picus Verlag 2000) hat er seine Lebensgeschichte erzählt. Als "der" Zeitzeuge in Salzburg hat er für ganze Generationen von Schülern das Bild der Shoah und der jüdischen Geschichte geprägt. Dabei hat er sich keine Phrasen zurechtgelegt. Lehrer, die den heute 92-Jährigen schon oft gehört haben, hat er gefragt: "Ist Ihnen das nicht zu blöd?" Sie antworteten: "Nein, Sie erzählen jedes Mal etwas anderes."

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