Die Katastrophe als Chance

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Der Krieg, den Hitler mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 vom Zaun brach, griff auf die ganze Welt über, kostete nach seriösen Schätzungen 55 Millionen Menschen das Leben und vernichtete unschätzbare materielle und kulturelle Werte . "Noch nie gab es in der Geschichte einen Konflikt, der so viel Zerstörung hinterließ, keinen auch, der sich am Ende so verheerend an seinen Urhebern rächte" schreibt der US-Historiker Gordon A. Craig in seiner "Deutschen Geschichte 1866-1945" (Verlag C. H. Beck, München 1996). Gleichwohl war nach der totalen Niederlage die Chance, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren, größer als jemals zuvor seit den Tagen Bismarcks.

Das war - urteilt Craig - paradoxerweise Adolf Hitler zu "danken". Der habe nicht nur "vieles von dem, was gut war in Deutschland" vernichtet, sondern auch "vieles von dem, was schlecht war": "Dazu gehörte die konservativ-militaristische Kaste, die in der Wilheminischen Epoche den Ton angegeben, die nach Kräften das Leben der Weimarer Republik zu verkürzen versucht und 1933 Hitler in den Sattel gehoben hatte." Und: "Wenn Adolf Hitler etwas war, dann gründlich: Er vernichtete die Fundamente des traditionalistisch geprägten Widerstandes gegen Modernität und Liberalismus ebenso vollständig, wie er die Strukturen des Rechtsstaates und der Demokratie zerstört hatte." Das deutsche Volk habe zwar "ganz von vorn beginnen" müssen, doch seien die "Hindernisse, die einem freieren politischen System im Weg gestanden hatten, ausgeräumt" gewesen.

Ähnlich Joseph Rovan, der in seiner "Geschichte der Deutschen" (Carl Hanser Verlag, München 1995) darauf verweist, daß nach dem Zweiten Weltkrieg der Traum vom deutschen Sonderweg ausgeträumt und Integration angesagt war. Rovan bescheinigt der Bundesrepublik unter Konrad Adenauer, es sei ihr gelungen, "endlich und sogar definitiv im Westen Fuß zu fassen und selbst ein Teil des Westens zu werden". Der Westen aber stehe "für Demokratie und Vernunft, aber auch für Freizügigkeit und Wohlstand für alle".

Kreisky und Waldheim Anders aber als Deutschland habe Österreich die Chance des Neubeginns nach der braunen Flut nicht optimal genutzt. Das offizielle Österreich, aber auch viele Österreicher aller Schichten, kritisiert Rovan, hätten geglaubt, "sie könnten sich durch eine Hintertür aus der Geschichte davonstehlen". Das Ergebnis sei ein "doppelter Provinzialismus" gewesen: "der proletarische Wiens und der kleinbürgerlich-bäuerliche des Alpenlandes".

Rovan erwähnt in dem Zusammenhang die Ära Kreisky und die Affäre Waldheim. In Anspielung auf die Kanzlerschaft Bruno Kreiskys schreibt der 1918 in München geborene Historiker, der nach Schulbesuch in Wien und Berlin mit seinen Eltern 1933 nach Paris emigrierte: "Welche symbolische Bedeutung liegt in der Tat in dem raffinierten Appell an diesen mürrischen und verlogenen Provinzgeist, der nicht einmal wirklich kriegsverbrecherisch ist, sondern im Österreich der Schreibtischtäter unter Hitler wurzelt, sich, um die Erblast abzuschütteln, für den kurzen Spätherbst eines goldenen Universalismus einen jüdischen Beinahe-Kaiser zu geben." Die Waldheim-Affäre führt Rovan als Beweis an, daß es in Österreich - zumindest zum damaligen Zeitpunkt - "ganze politisch-kultursoziologische Schichten und Bezirke" gegeben habe, "in denen der Sumpf des rassistischen, antisemitischen, großdeutschen Nationalismus immer noch nicht ausgetrocknet ist und weiter seine übelriechenden, krankmachenden Ausdünstungen verströmt."

Der Autor war zwanzig Jahre Leiter der Wiener Redaktion der "Tiroler Tageszeitung", danach von 1987 bis 1997 Chefredakteur der Austria Presse Agentur. Er lebt jetzt als freier Journalist in Wien und Freising.

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