"Es gibt keine Geheimnisse"

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Wohin hätte sich die Musikgeschichte ohne Haydn entwickelt? Für Pierre Boulez ist die Sache ganz klar: "Mozart hätte nicht existiert." Haydn nur als Vorstufe zu Mozart zu sehen, greift für Boulez aber zu kurz.

Für sein Buch "Unser Haydn" (siehe Tipp auf S. 23) führte Walter Dobner Gespräche mit 17 namhaften Interpreten, denen je ein Kapitel gewidmet ist. Einer von ihnen ist Pierre Boulez - das folgende, im O-Ton hier erstmals publizierte Interview bildete die Grundlage für den entsprechenden Abschnitt im Buch, der dort mit "Mozart hätte nicht existiert" überschrieben ist.

DIE FURCHE: Klare Verständlichkeit, geistvolle Brillanz, feiner Geschmack - mit solchen Worten versucht man oft das Schaffen von Haydn zu charakterisieren. Greift dieses Bild nicht zu kurz?

Pierre Boulez: Als ich jung war, galt Haydn, wie man im Französischen sagt, immer als "zweites Messer". Das Thema Haydn hat mich nicht interessiert. Wie ich zu dirigieren begonnen habe, hatte das Concertgebouw Orkest in dieser Saison eine Reihe mit den zwölf Londoner Symphonien. Da habe ich zum ersten Mal eine Haydn-Symphonie dirigiert. Schon vorher wusste ich von Heinrich Strobel vom Südwestfunk, dass er die Haydn-Symphonien sehr schätzte. Hans Rosbaud hat oft Haydn-Symphonien aufgeführt. So kam ich mit Haydn in Kontakt, komischerweise nicht mit seinen Oratorien, auch nicht mit seinen Opern. Diese waren damals - wir sprechen von den 1950er Jahren - vollkommen unbekannt. Meine Karriere führte mich später zum BBC Symphony Orchestra, zuerst als Gastdirigent, dann als Chefdirigent. Haydn war in London nicht nur beliebt, sondern sehr geschätzt. Da habe ich angefangen, ziemlich regelmäßig Symphonien von Haydn zu dirigieren. Das hat sich in New York fortgesetzt. Einmal habe ich sogar eine Oper von Haydn konzertant aufgeführt, mit einem Sprecher, der die Geschichte erzählte. Haydn habe ich auch mit den Wiener Philharmonikern aufgeführt: die letzte Symphonie, die "Londoner".

DIE FURCHE: Haydn wird oft nur zum Einspielen genommen. Ein Zeichen von Geringschätzung?

Boulez: Auch Mozart wird oft am Beginn gespielt, denn die Werke haben die richtige Dauer. Das passt am Anfang, ausgenommen die letzten Mozart-Symphonien, die "Jupiter" oder die große g-Moll, die spielt man natürlich am Ende. Bei den Haydn-Symphonien ist der letzte Satz immer so lustig und angenehm. Es ist daher eine gute Art, so ein Konzert zu beginnen, besonders, wenn man hinterher ein Stück spielt, das länger und schwieriger zu hören ist. Zugegeben: Der arme Haydn leidet etwas darunter.

DIE FURCHE: Musikwissenschafter und Interpreten werden nicht müde, auf Haydns entwicklungsgeschichtliche Bedeutung hinzuweisen. Auf dem Programm steht er nur selten. Ein Widerspruch?

Boulez: Haydn ist interessanter als Mozart. Der Erste, der das gesagt hat, war Wagner. Das steht in den Tagebüchern von Cosima. Bei Wagner hat man am Abend immer Musik gespielt, in Triebschen, später in Bayreuth. Dieser Ausspruch datiert aus seiner Zeit in Triebschen. Wagner hörte damals Streichquartette, darunter Beethoven. Cosima schreibt, die Symphonien von Haydn sind einfallsreicher als die von Mozart. Er schreibt ein Hauptthema, die Motive gehen von einem Instrument zum anderen, die übrigen Stimmen sind nur Füllung. Bei Haydn kann man immer überrascht werden, er hat immer frappierende Einfälle in der Motivik. Mich hat diese Äußerung von Wagner überrascht. Cosima aber konnte nichts anderes schreiben als Wagner sagte. Diese Äußerung ist daher sicher authentisch.

DIE FURCHE: Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere bei Haydn - die Rhythmik, die Harmonik, die Modulation, die thematische Arbeit?

Boulez: Alles. Die Thematik ist koordiniert mit der Modulation, mit der Harmonik und so fort. Ich habe alle Symphonien in der Ausgabe von Robbins Landon. Wenn man die frühen und die späten Werke vergleicht, sieht man einen Riesenunterschied. Es gibt Symphonien, die sind interessant durch die Virtuosität, etwa die beiden Symphonien für vier Hörner - dieser Part ist sehr schwer. Das für mich Interessante ist aber nicht nur die Inspiration durch die Möglichkeiten der Instrumente, sondern die Motivik, vor allem die stark kontrapunktischen Durchführungen. Das ist reicher als Mozart, ausgenommen seine letzten Werke. Bei der Oper lässt sich Haydn mit Mozart nicht vergleichen. Man kann Haydn rehabilitieren, aber er hat nicht "Don Giovanni" geschrieben. Wenn man den Text der "Jahreszeiten" liest, ist es sehr schwer, das heute zu schlucken, dieses Idealistische und Einfache des 18. Jahrhunderts. Die Musik ist sehr erfrischend, aber man fragt sich, warum hat Haydn einen solchen Text ausgewählt? Der Text von Beethovens Neunter ist interessanter.

DIE FURCHE: Haydn hat von sich selbst gesagt: "Meine Sprache versteht die ganze Welt". Für Robert Schumann war er "wie ein gewohnter Hausfreund, der immer gern und achtungsvoll empfangen wird. Tieferes Interesse hat er für die Jetztzeit nicht mehr." Brahms und Prokofjew nahmen Haydn als Inspirationsquelle. Was ist Ihre Sicht?

Boulez: Man kann sagen, was man will, aber zwischen Mozart, Beethoven und Wagner ist es eine schwierige Position. Haydns Musik spricht unmittelbar an, es gibt keine Geheimnisse - und wenn es welche gibt, dann liegen sie in dieser Naivität. Lange Zeit wurde auch Mozart als oberflächlich eingeschätzt. Berlioz beispielsweise mokierte sich über das letzte Ensemble im "Don Giovanni", er nannte es eine Schande. Er verstand auch nicht, warum die Königin der Nacht über ihr Leiden mit einer solchen Virtuosität singen kann. Bis hinein in das 20. Jahrhundert wurde "Così fan tutte" nicht in seiner Tiefe verstanden. Bis Wagner hatten die Romantiker ihre Schwierigkeiten mit Mozart. Haydn ist nicht Beethoven, er hat keine Opern vom Rang Mozarts geschrieben, er steht im "Sturm und Drang". Wo aber lässt sich hier eine Verbindung zur Romantik Schumanns finden? Und neben Wagner wirkt Haydn, wie man so sagt, "light weigth". Haydn ist immer der etwas Kleinere. Das ist ungerecht, denn seine Symphonien und Kammermusik sind sehr hoch einzuschätzen.

DIE FURCHE: Hätte es Haydn nicht gegeben, welche Auswirkungen hätte das gehabt?

Boulez: Mozart hätte nicht existiert. Bedauerlicherweise wird Haydn als Treppe zu Mozart gesehen. Das ist schade, denn Haydn ist mehr, aber dieses einzigartige Genie von Mozart ist größer.

DIE FURCHE: Es heißt immer wieder, Haydn-Symphonien seien wichtig für die Qualität eines Orchesters. Sehen das die Musiker genauso?

Boulez: Das ist ein Problem, ein Orchester hat hundert Leute, die muss man bezahlen. Eine Symphonie von Haydn braucht ungefähr 40 bis 45 Leute. Würde man dauernd Haydn spielen, hätte die Hälfte des Orchesters keine Arbeit. Das klingt dumm, aber man muss das auch aus wirtschaftlicher Sicht sehen. Sowohl beim BBC Orchestra in London als auch bei New York Philharmonic hatte ich Wochen, in denen das Orchester in zwei Teile geteilt war. Mit dem einen habe ich zeitgenössische Musik aufgeführt, mit dem anderen Repertoire des 18. und vom Anfang des 19. Jahrhunderts, denn für solche kleinen Besetzungen sind nicht nur Haydn und Mozart, sondern etwa auch die Streichersymphonien von Mendelssohn geschrieben. Man darf aber nicht übersehen, dass einige Orchester meinen, Haydn sei mittlerweile eine Sache für Spezialisten. Da stellt sich die Frage der Authentizität, aber was ist Authentizität? Abgesehen davon: Ein Text ist ein Text und ist nicht gebunden an Instrumente der Entstehungszeit. Es gibt mehrere Möglichkeiten, Gott sei Dank. Man spielt Goethe, Racine oder Shakespeare auch nicht wie sie zur Zeit der Entstehungszeit gespielt wurden. Die Theaterleute haben mehr Mut als die Musiker. Shakespeare wie bei einer Vorstellung in London im 17. Jahrhundert - das könnten wir nicht aushalten, das wäre nur als Dokument interessant. Aber daraus muss man nichts Sakrosanktes machen, das jedenfalls ist mein Standpunkt. Der Musikwissenschafter Dietmar Holland hat einmal formuliert: Haydns Erfindung war das "Denken statt Dichten in Tönen". Denken halte ich für etwas übertrieben. Haydn hat seine Epoche reflektiert. Er hat nicht rebelliert wie Mozart oder Beethoven, er war ein Diener. Bach war ein Diener der Kirche, Haydn war der Diener einer besonderen Klasse: der Edelklasse. Er hat sich dabei ziemlich wohl gefühlt. Als es ihm zu eng wurde, ging er nach England, fand dort seine Freiheit und kam auch nie mehr zurück zu Fürst Esterházy. Zum einen, weil der Fürst nicht mehr bezahlt hat, zum anderen, weil Haydn diese Freiheit nicht mehr aufgeben wollte. Haydn ist für mich der perfekte Repräsentant einer Periode ohne Drama, aber mit tiefen Gefühlen.

BUCHTIPP: Unser Haydn. Große Interpreten im Gespräch

Von Walter Dobner

Böhlau 2008, 112 S., geb., e 19,90

P. Boulez

Der französische Komponist und Dirigent wurde 1925 geboren und war Kompositionsschüler von Olivier Messiaen. Er hatte Chefpositionen u. a. beim BBC Symphony Orchestra und bei den New Yorker Philharmonikern inne und ist auch regelmäßiger Gast bei den Wiener Philharmonikern.

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