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Der Wiener Kongreß und das Völkerrecht

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Diese Rehabilitierung der infolge allerhand geistloser Entstellungen lächerlich gemachten Staatsmänner sei den heutigen Machthabern, ihren Handlangern und den Pseudohistorikern zur Kenntnisnahme empfohlen. Sie werden eines Besseren belehrt, das Ergebnis der gewissenhaft in dem seit 1792 verwässerten Legitimismus geführten Verhandlungen würdigen, der, „was in früheren Zeiten auf Widerspruch gestoßen wäre, alle in Wien versammelten Souveräne auf die gleiche Stufe stellte“. Den Vorwurf, der Kongreß habe den Versuch gewagt, auf den Stand der Dinge von 1792 zurückzukommen, widerlegt Robert Rie, der als erster ausländischer Chronist dieser Staatsmännerversammlung die unentbehrlichen Dokumente im Wiener Staatsarchiv in weitestem Ausmaß herangezogen hat. So stellt er fest, „daß die in der napoleonischen Aera erfolgten Liberalisierungen, etwa parlamentarische Einrichtungen in den Rheinbundstaaten, eine fortschrittliche Gesetzgebung auch im preußischen Rheinlande erhalten haben ... Im allgemeinen blieben auch die vom Kongreß festgesetzten internationalen Grenzen Europas bis zum ersten Weltkrieg bestehen“, nach welchen die traditionslosen Friedensmacher, zumeist mehr Demagogen als zünftige Diplomaten, den Niedergang Europas verschuldet haben. Anders als diese Scheinsirößen leiteten 1814 bis 1815 weder Haß noch Vergeltungstrieb die Teilnehmer am Kongreß, dem sie Frankreich, den erst nach 22 Jahren niedergerungenen Gegner, in der klugen Voraussicht beigezogen haben, eine so gewichtige Macht dürfe nicht ausgeschaltet werden, wie es zum Schaden für ganz Europa 1919 mit Oesterreich-Ungarn und Deutschland geschah.

Die Wahl Wiens zum Versammlungsort für den Kongreß war von den im Mai 1814 in Paris anwesenden Souveränen aus Courtoisie für Kaiser Franz getroffen worden, da sein Reich in den Kriegen gegen Frankreich die meisten Opfer gebracht hatte und er als dreifacher, erblicher Monarch — Kaiser von Oesterreich, König von Böhmen und Ungarn — die Legitimität wie kein anderer Souverän verkörperte. Der Nimbus dieses Begriffs, vor der Revolution eine der Voraussetzungen des Völkerrechts, welcher bereits durch die mit der französischen Republik in Basel (mit Spanien und Preußen) und in Campo-Formio (mit Oesterreich) geschlossenen Friedensverträgen, die eine Anerkennung des neuen Systems in Frankreich bedeuteten, beeinträchtigt war, bedurfte eines moralisch unantastbaren und die anderen gekrönten Häupter an persönlichem Prestige überragenden Gastgebers. „Obschon der Träger der Krone zwischen den Prinzipien des Bonapartismus und des starren Legitimismus schwankte, anerkannten die Zeitgenossen seine Geradeheit.“ Noch vor dem Sturz Napoleons hatte Friedrich Gentz an Adam Müller geschrieben: „Das Prinzip der Legitimität, so heilig es auch sein mag, ist in der Zeit geboren, darf also nicht absolut, sondern nur in der Zeit wie alles Menschliche modifiziert werden ... Die höhere Staatskunst kann und muß unter gewissen Umständen mit diesem Prinzip kapitulieren.“ So fühlte auch Kaiser Franz, der seine Lieblingstochter der Politik geopfert, seines Schwiegervaters, Ferdinands von Neapel, Herrschaft auf Sizilien beschränkt,' hingegen den mit Oesterreich verbündeten Murat, Napoleons Schwager, als König auf dem Festland erhalten sehen wollte, daher den Aufmarsch königlich-französischer Truppen durch österreichisches Gebiet gegen seinen Alliierten nicht zuließ. Diesmal konnte er sich zu dem neuerlichen Abrücken vom Legitimitätsprinzip strengster Observanz um so eher entschließen, als die in den früheren Kriegen verlorenen Gebiete, insgesamt durch Heirat legitimierter Besitz, zum Haus Habsburg zurückgekehrt waren.

Durch den Ausspruch Lignes, „der Kongreß tanzt“, sowie die alle Begebenheiten weiterhin verfälschende Legende, ist der Wiener Kongreß für die naive Nachwelt eine Aufeinanderfolge frivoler Feste und Zerstreuungen geworden. Die etlichen zwanzig Kongreßmitglieder, durchweg bejahrte und ihrer Pflicht bewußte Männer, haben niemals getanzt, sondern der an der Neuordnung Europas nicht mitarbeitenden Jugend das Tanzparkett überlassen. Die Behauptung, daß nicht allzu tugendhafte Frauen — übrigens durchweg Ausländerinnen — durch ihre Intrigen die Verhandlungen gestört haben, ist ebenso haltlos. Unter den zahllosen in Wien erschienenen Ausländern befanden sich neben den bei derartigen Ereignissen unvermeidbaren Abenteurern zahlreiche durchaus achtbare Persönlichkeiten, die ihre durch die Umwälzungen im Reich während der letzten 20 Jahre entstandenen Forderungen betreiben wollten.

Der Anteil Oesterreichs an dem nach seiner Hauptstadt benannten Friedenswerk gereicht dem sonst reservierten, durch Ruhe und Konzilianz stets die Gegensätze ausgleichenden Kaiser Franz und allen Faktoren um ihn, die am vornehmsten Hof seiner Zeit und allerorts in der Residenz eine ihm angepaßte Atmosphäre schufen, vollauf zur Ehre. In der alle anderen dominierenden Frage der territorialen Veränderungen, bei deren Bereinigung jedwede Härte wegen der unausbleiblichen Ressentiments vermieden werden mußte, ist der Kongreß im Sinn des Völkerrechtes entsprechend vorgegangen. Trotzdem sind die „Wiener Kongreßakte“ wie alle Friedenstraktate durch bei Abschluß nicht vorherzusehende Umstände ohne Gewaltanwendung außer Kraft gesetzt worden. Sie sind nicht aus sich selbst heraus zerfallen -und keineswegs eine Fehlkonstruktion aus den Händen angeblich unbelehrbarer Reaktionäre gewesen.

Mit dem Erwachen des 1815 noch latenten Nationalismus, dessen frühesten Regungen die Heilige Allianz mangels jedweder Erfahrungen verständnislos gegenüberstand, kamen in den ersten Jahren nach dem Wiener Kongreß auch in Mittel- und Osteuropa neue Schichten zu Wort und bald auch zur Macht, durch deren einsichtslosen Radikalismus die Gegensätze in der Politik in immer schärferer und unsachlicher Weise ausgetragen wurden. Vorbei waren die Zeiten, in denen Monarchen und Staatsmänner, wie die in Wien versammelten, bei der Verteidigung ihrer Interessen und Rechte Form und Gesicht zu wahren verstanden. An den Kongressen vpn Paris (1856) und Berlin (1878) betätigte sich noch die Elite der europäischen Diplomatie; auch nach den anderen Friedensverhandlungen zwischen vereinzelten Mächten gingen die Teilnehmer nicht als unversöhnliche Feinde auseinander, wie nach den Pariser Frieienstraktaten die Zentralmächte mit den Siegern hervor, die, genau genommen, durch ihre Gewaltpolitik nun ebenfalls den Krieg verloren, um uns der Tyrannei der Inkompetenz auszuliefern, welche immer mehr in aller Welt zur Herrschaft gelangt.

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