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Die dritte Generation

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Die Entsendung des etwa 50jährigen Ersten Steilvertreters des sowjetischen Ministerpräsidenten, Frol Koslows, nach den Vereinigten Staaten bat die Weltöffentlichkeit auf diese relativ neue Gestalt auf dem Parkett der Sowjetpolitik aufmerksam gemacht und zu verschiedenen Spekulationen geführt. Man sieht in Koslow teilweise bereits einen Kronprinzen, den zukünftigen Nachfolger Chruschtschows. Solche Spekulationen sind natürlich zumindest verfrüht. Es bleibt jedoch die interessante Tatsache, daß aus dem dichten Dschungel des sowjetischen Staats- und Parteiapparats neue Menschen in der letzten Zeit in der deutlich sichtbaren Staatsspitze in Erscheinung treten. Das Ausland sieht von ihnen natürlich zuerst diejenigen, die irgendwie zu außenpolitischen Aufträgen herangezogen werden.

Koslow steht nicht allein als 50jähriger bei der Roten Staatsspitze, doch sein Werdegang ist typisch für die zukünftige leitende Schicht der Sowjetunion. Der Name Koslow stammt von Kosel, also Ziegenbock, her. Es gibt Millionen von Koslows in der Sowjetunion. Warum der Ziegenbock ein so beliebtes Symbol für den Familiennamen wurde, ist unbekannt. Der Name selbst besagt natürlich nichts über die soziale Abstammung seines Trägers aus. Es gab hochadelige Familien mit diesem Namen, es gab alte und reiche Kaufmannsgeschlechter, aber auch unzählige arme leibeigene Bauern, die sich so nannten. Eines sagt jedoch dieser Familienname mit Bestimmtheit aus — er ist urrussisch und sein Träger stammt bestimmt aus dem Herzen Großrußlands. Dagegen sagt der fYornaig? „Erol“ viel mehr. Man wird vergebens einen Ankömmling einer adeligen oder-,.gebildeten, Familie suchen, der auf den Namen Frol getauft wäre. Es ist ein heute verhältnismäßig ganz selten vorkommender Vorname, denn selbst die in die Stadt übergesiedelten Bauern hörten oft als Arbeiter auf, ihre Kinder auf Namen, die im Dorfe üblich waren, zu taufen. Mit einem Wort: Frol ist ein typischer Bauernname in Rußland. Vor allem in den russischen Klerikerkreisen, die sich streng nach den kirchlichen Regeln der Namensgebung halten, kommt dieser Name noch gelegentlich vor. Wenn die Eltern des heutigen hohen Staatsmannes kleine Bauern waren, so beweist dieser Name auch — die Benennung ihres Sohnes nach dem heiligen Frol —, daß der heutige Vizeministerpräsident Koslow sehr fromme Eltern hatte. Tatsächlich: Frol Koslow ist um das Jahr 1908 in einem kleinen Dorf des Gouvernements Rjasan geboren worden. Das ist das Herz Rußlands, in jenem Dreieck, umflossen von den Flüssen Wolga, Oka und Moskwa, jene geographische und völkische Zelle, aus der sich das Großfürstentum Moskau und später das russische Imperium entwickelt hat. Aber die Bauern des Gouvernements Rjasan kamen daher auch früher als alle anderen in die Leibeigenschaft; Armut und der Bodenhunger waren hier am größten. Wahrscheinlich war es auch die Not, welche später den Rjasaner Bauern den Ruf besonderer Pfiffigkeit verschaffte. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts -galten die angelernten Handelsgehilfen des in altrussischen Traditionen lebenden Handels, vielfach Rjasaner, als besonders tüchtig und pfiffig.

Als der erste Weltkrieg ausbrach, war Fro’ Koslow etwa acht Jahre alt, als die Revolutior ausbrach etwa elf Jahre. Das Schicksal seine: Eltern kennen wir nicht. Wir wissen auch nicht wohin sie aus ihrem Dorfe zogen und wie ei dazu kam, daß der junge Frol Koslow alle Vor teile für seine Bildung ausnützte, die ihm di Revolution bot. Als Frol Koslow noch als Mittel schüler in den kommunistischen Jugendbund ein trat, war die heroische Zeit der russischen Re voiution und der Bürgerkrieg schon vorüber Der Aufstieg des jungen Koslow — nicht allzi schnell — verlief eigentlich schon in für sowje tische Verhältnisse normalen Bahnen. Der jung- Koslow setzte sich im kommunistischen Jugend bund gut durch, wurde mit verschiedenen Funk tionen betraut, und es war natürlich, daß er nach der Matura auf eine technische Hochschule in Leningrad kam. Bis zu seiner Diplomprüfung hatte er genug Gelegenheit, in verschiedenen Funktionen des Komsomol sich zu bewähren und seine Karriere solid zu untermauern. Er hatte auch genug Gelegenheit, mit den Arbeiterorganisationen Leningrads in engeren Kontakt zu kommen. Der junge Ingenieur, der dann in die Industrie ging, kam dorthin bereits mit einem soliden und positiven Parteidossier, so daß er überall in den Parteizellen eine gewisse Rolle spielen konnte. Es ist auch nicht verwunderlich, daß er schließlich eine Parteifunktion bekam, und zwar die des Sekretärs der Leningrader Parteiorganisation, eine Stellung, an die sich jetzt viele ausländische Spekulationen knüpfen.

Chruschtschow hatte öffentlich erklärt, daß die älteren Jahrgänge abtreten sollen und der jüngeren Generation der Weg frei gemacht werden soll. Diese Ablösung wird heute in der Sowjetunion von der Parteizentrale aus systematisch durchgeführt. Dabei kommen die heute Fünfzigjährigen natürlich in die obersten Ränge. Sie werden in absehbarer Zeit die Altersgenossen Chruschtschows und Mikojans ablösen. Ob dabei Frol Koslow persönlich Chruschtschow als Regierungschef ablösen wird, steht heute aber durchaus noch nicht fest. Auf jeden Fall gibt es auch heute wieder „Vorgeschobene“, und zu ihnen gehört auch Koslow. Aber: Es ist sicher, daß man heute in der Sowjetunion keine Thronfolger aussucht. Die Vergangenheit hat nämlich gezeigt, daß solche Kombinationen praktisch keinen Wert haben. Als Stalin die ganze Macht jn j der Sowjetunion eroberte, arbeiteten die innerparteilichen Theoretiker das Dogma von der persönlichen Verantwortung des Führers aus. Um Parteikämpfe wie nach dem Tode Lenins zu vermeiden, wurde der Nachfolger Stalins im voraus nominiert. Der erste war Kirow. Als er am 1. Dezember 1934 ermordet wurde, wurde Andrej Schdanow der anerkannte Kronprinz. Jedoch auch dieser starb vor Stalin. In diesen Jahren war, parteimäßig gesehen, Leningrad und seine Umgebung das wichtigste Parteigebiet. Das war der Sitz der Schwerindustrie, die alte Bastion des Bolschewismus. Als Parteiorganisation war Leningrad wichtiger als Moskau. So wurde der Kronprinz jeweils zum Chef der Leningrader Partei gemacht. Da Koslow vorübergehend auch Leningrader Parteisekretär war, kombiniert man daraus seine Thronfolge. Doch heute stimmt das nicht mehr. Es sind inzwischen andere industrielle Schwerpunkte entstanden, größere als die des Leningrader Gebietes. Es gibt heute auch viel größere Industriestätten als die Putilowwerke oder die Leningrader Schiffswerften. Die ukrainische Parteiorganisation mit ihrem Donezbecken, das Uralgebiet und noch andere sind heute innenpolitisch ebenso wichtig oder sogar noch wichtiger als Leningrad. Es wäre daher falsch, heute schon in Frol Koslow den zukünftigen Regierungschef zu sehen. Doch Frol Koslow ist trotzdem typisch für die nächste Schicht, die in der Sowjetunion das Ruder übernimmt. Die erste Schichte waren intellektuelle Abkömmlinge des Adels und des Bürgertums, die in der Emigration Sich den Wind ganz Europas um die Nase haben wehen lassen und in den Bibliotheken der europäischen Hauptstädte ein universales Wissen gesammelt hatten. Für sie war Weltrevolution und Internationalismus noch ein echtes Anliegen. Sie wären bereit gewesen, im Interesse der Weltrevolution die Führung auch einer anderen Nation abzugeben. Lenin hat dies auch gesagt. Mit Stalin und denjenigen, die hinter ihm standen, kam eine wirklich proletarische Schicht ans Ruder. Sie waren zwar Altersgenossen der Intellektuellen. Sie kämpften illegal unter der Führung der Intellektuellen gegen den Zarismus, doch sie studierten an keinen Universitäten, sie waren Autodidakten und vor allem keine Emigranten. Mit ihnen kam darum der russische Nationalismus in den Vordergrund. Das ganze kommunistische Gedankengebäude wurde wieder robuster und primitiver, die Politik brutal, aber realistisch. Von dieser Generation lebt eigentlich nur noch der Staatspräsident, der alte Marschall Klim Woroschilow, der-noch im Bürgerkrieg eine große Rolle gespielt hat. Chruschtschow upd Mikojan stehen noch am .Rande dieser Generation - denn sie traten der Partei knapp vor der Revolution bei, als der Zarismus bereits in den letzten Zügen lag. Die Romantik des illegalen Lebens kennen sie nicht, wohl haben sie aber die blutige Romantik des revolutionären Bürgerkrieges miterlebt.

Frol Koslow trat ins bewußte Leben ein, als der junge Sowjetstaat sich bereits konsolidiert hatte. Als Sohn armer Bauern gehörte er schon damals der privilegierten Schicht an, und sein Werdegang entbehrt jeder Romantik, jeder farbigen Beimischung und gibt nicht den leisesten Anhaltspunkt für eine Legendenbildung. Die Anfänge der Partei, Revolution und Bürgerkrieg sind für ihn und seine Altersschicht bereits Geschichte. Man könnte beinahe sagen: ihr Werdegang ist ebenso nüchtern, folgerichtig und bar jeder Romantik wie die eines beliebigen englischen Politikers. Jedoch Schule, Hochschule und Komsomol erzogen sie so, daß für sie die kommunistische Weltanschauung die einzig mögliche Sie .Hrärttin’Ütf’Stäätsdienerh erzö’gh, und so ist der Kommunismus für sie die einzig mögliche Form des russischen Patriotismus. Das Weltrevolutionäre wird für sie noch weit mehr in den Hintergrund treten. Doch für Rußland und sein Einflußgebiet, für die Größe des russischen Imperiums werden sie vielleicht mehr opfern wollen als selbst heute Chruschtschow. Und ihr nationales Selbstbewußtsein, wenn auch geschmeidiger, ist heute vielleicht schon größer als das der jetzt Regierenden.

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