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Die Grenze des Bonifatius

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In diesen für den Westen so kritischen Junitagen des Jahres 1954 ehrten die Kirchen Deutschlands, Englands und Hollands das Andenken eines Mannes, der vor 1200 Jahren den Märtyrertod fand und der ein Begründer jener tausendjährigen geistigen Einheit Westeuropas war, die heute nicht mehr ist. Heidnische Friesen erschlugen den Missionsbischof Wynfrith-Bonifatius in der Nähe des heutigen Dokkum. Seine Gebeine wurden nach Fulda übertragen. In dieser späteren Reichsabtei, aus der so viele Erzieher Deutschlands im Mittelalter hervorgehen sollten, ruhen sie heute noch — unter ihrem Schutz und Schirm versammeln sich alljährlich die deutschen Bischöfe zu ihren Bischofskonferenzen. Und hier fand auch soeben jener Staatsakt der Bonner Republik statt, zu Ehren des Heiligen Bonifatius, bei dem im Angesicht aller Kardinale des deutschen Raumes und einer großen Schar gläubigen Volkes Bundeskanzler Dr. Adenauer sein vielbeachtetes Bekenntnis als „Christ, Deutscher, Europäer“ zum Werk und Willen des Bonifatius ablegte.

Größe und Grenze Westeuropas, seine Stärke und (lange Zeit intime) Schwäche wird vorabgesteckt durch diesen Mann, dessen Persönlichkeit die bedeutendste katholische deutsche Darstellung seines Wirkens in diesem Jahre (Theodor Schieffer) mit den Worten umreißt: „Der Heidenprediger, der Bistums- und Klostergründer, der Märtyrer is nicht zu lösen von dem autoritätsgläubigen, scheinbar schwunglosen, ängstlich-kleinlichen, unselbständigen, ja engherzigen Repräsentanten der römischen Amtskirche.“

Dieser „ängstliche, kleine Mann“ war ein Arbeiter im Weinberg des Herrn, den keine Rückschläge, keine Mißerfolge, kein Scheitern beirrten. Unverwirrt durch eine gigantische Misere ging er seinen Weg. Als er aus England auszog, wo er eine benediktinisch-huma- nistische Bildung in den Klöstern Adescan- castre und Nhutscelle erhalten hatte — in letzterem war er zum Leiter der Klosterschule aufgestiegen —, gab es noch kein Westeuropa. Das Frankenreich erhob sich langsam aus jahrhundertelanger Anarchie, die Kirchen in ganz Zentral- und Mitteleuropa waren Inseln in heidnischer See, oft überspült von deren Wellen; das schwache Papsttum in Rom war innerlich und äußerlich an den Osten, an den „heiligen Kaiser“ in Konstantinopel gebunden. Als Bonifatius stirbt, sind die Grundlagen für jenes Westeuropa gelegt, das bis zum Wiener Kongreß 1815 im wesentlichen aus einer Allianz des Papsttums mit den christlichen Fürsten (in den protestantischen Ländern wird diese Allianz analog gebildet durch die Fürsten als Kirchenherren mit ihrem Klerus), aus einer antikisch-mittelalterlichen Bildungskultur der „großen Form“, aus einer Herrschaft von Adeligen in Staat und Kirche, vereint mit klerischen Bildungsträgern bestehen wird. Diese stehen bis zum Mainfranken Goethe in der Tradition des Rhabanus Maurus — der aber wächst in eben jenem Fuldaer und Mainzer Raum heran, der den Herzkern für das Wirken des Bonifatius bildet.

Das landläufige populäre Bild vom Wirken des Bonifatius besagt: Bonifatius „organi siert“ die deutsche Kirche und ordnet sie Rom unter. Die protestantischen Geschichtsschreiber des 16. Jahrhunderts sahen in ihm den „Römling“, wie ihn die deutsche Kulturkampfära und das Dritte Reich denunzieren, und meinen, er müßte richtig Male fatius, der Mann, der Uebles über Deutschland gebracht habe, genannt werden, nicht Bonifatius, der Gutestuende, wie ihn der Papst 718 auf seiner ersten Romreise benannt hatte. Inzwischen hat gerade die protestantische Forschung des hohen 19. Jahrhunderts die wesentlichen Bausteine zusammengetragen, die eine gerechtere Würdigung dieses Mannes erlauben. Das aber sei bereits vorvermerkt: die unmittelbarsten Nutznießer seines Werkes, das fränkische Königtum und das Papsttum des 8. Jahrhunderts, haben es ihm zunächst wenig gedankt: beredtes Schweigen fällt auf ihn, ein langer, schwerer Schatten, in den zeitgenössischen offiziellen Geschichtsberichten, in der frühkarolingischen Hauschronik und im Liber pontificalis, in der kurialen Historie der Päpste. Erst im Kulturkampf gelang es deutschen Katholiken nach zwanzigjährigen Petitionen, 1874 die Einführung seines Festes als eines Festes der ganzen Kirche zu erbitten. In einer Zeit, in der sein Werk bereits in Grundbezügen fragwürdig geworden war. Diese langen Schatten hatten bereits die letzten Jahre des Bonifatius selbst verdüstert: dem immer mehr vereinsamenden Angelsachsen war es nicht gelungen, die Männer und Frauen seiner Heimat in den Führungsstellen der fränkischen Kirche durchzusetzen; gerade jener fränkische und mitteleuropäische Adel, gegen den er so lange hatte kämpfen müssen, um die Kirchen seiner Habgier und „Korruption“ zu entreißen, tritt seine Nachfolge an. Gerade hier aber wird mitten in der. machtpolitischen Niederlage sein großer Sieg sichtbar: diese adeligen

Herren, deren Väter seit Jahrhunderten das Kirchengut an sich gerissen hatten, und die als Bischöfe wenig genug für Kult, Mission, Seelsorge und weitere Christianisierung Mitteleuropas getan hatten, werden nun, aus eigener, von Bonifatius erweckter Kraft, sein Werk fortsetzen. Das Reich Karls des Großen ruht auf der inneren Reform und der äußeren Organisation, die Bonifatius geschaffen hat.

Bonifatius, „der Apostel der Deutschen“, wie er seit dem 16. Jahrhundert genannt wird, hat sich in reifen Jahren entschlossen, in den schwierigen germanischen Landen Europas Missionär zu werden. Er selbst hat sich den Auftrag gestellt, aus seinem Gewissen heraus. Nicht Rom hat ihn gesandt — wohl aber hat es ihm die Autorität gegeben, die er sich erbat. Das ist bereits nicht unwichtig: dieser große Sendbote ist nicht zu vergleichen den Kommissaren und Emissären späterer Zeiten, die von irgendeiner Zentralstelle ausgesandt werden und selbst nicht wissen, wohin sie gehen. Das Rom, in das Bonifatius immer wieder einkehrt, um sich Vollmacht für seine Missionsarbeit geben zu lassen, hatte andere Sorgen als die unwirtlichen Räume des europäischen Nordens und Ostens. Arg bedrängt von den Langobarden und den byzantinischen Schirmherren, ausgesetzt allen religiösen und kirchenpolitischen Kämpfen in deren Raum, selbst immer noch eine Zelle im griechisch-östlichen Kulturkreis, die Päpste selbst sind, wie zuletzt noch der für Bonifatius so wichtige Papst Zacharias (741 bis 752), griechischer Herkunft und im östlichen Kulturkreis beheimatet, dieses Rom am Vorabend der Hinwendung zu den karolingischen Herrschern und damit zum Westen, läßt noch kaum erahnen, wo die Schwerpunkte der Römischen Kirche im Jahrtausend nach Boni- fatius liegen werden: eben in jenem Mittelund Westeuropa, dessen innere Struktur Bonifatius mitgeschaffen hat.

Bonifatius betritt als Missionär und Organisator einen germanisch-keltischen Raum, der vor ihm bereits in drei Wellen oberflächlich, eigenwillig, und sehr beschränkt auf einige Stützpunkte christianisiert worden war. Halbchristianisierte Heiden in Thüringen, Franken, Bayern, Hessen bilden mit Gruppen, die christliche und heidnische Kulte praktizieren, mit anderen, die Jahr für Jahr abfallen und sich wieder „bekehren“ lassen, eine Gemengelage mit jenen Christen, die von iroschottischen Wanderbischöfen, angelsächsischen, romverbundenen Missionären, von verheirateten fränkischen, alemannischen und bayrischen Priestern in der Obhut eines weltverfallenen Episkopates mit vorwiegend politischen und besitzmäßigen Interessen nur sehr mangelhaft betreut wurden. Kaum einer unserer heutigen Begriffe von Seelsorge, von innerer religiöser Entwicklung und Persönlichkeitspflege kann auf diese oberflächlich christianisierten Stämme bezogen werden, die sich immerhin entschlossen, dem „starken Christ“, dem treuen Christusherrn Gefolgschaft zu leisten und diesem Kriegsherrn vor jenen Göttern, die ihre Schwäche und Treulosigkeit so augenscheinlich in dem Elend jahrhundertelanger Wanderfahrten und Kämpfe erwiesen hatten, den Vorzug zu geben.

Bojiifatius begegnet hier zwei Erscheinungen, die bis zur Gegenwart schicksalhaft den deutschen religiösen Raum bestimmen: einer gewissen Sehnsucht nach einem starken Gott, dem man sich bedingungslos unterwirft (dieser starke Gott wird in den folgenden Jahrhunderten als „der deutsche Gott“, deus theutonicus, auf der Spitze des Schwertes in die slawischen Lande getragen; dieser Gott-Herrscher fordert bedingungslose Unterwerfung; die Slawen erschrecken, aber auch die Deutschen erschrecken immer wieder vor diesem Ueber- herrn). Zum anderen begegnet er, auf allen seinen Wegen, zu seinem eigenen großen Erschrecken, einem unbetreuten Untergrund, der sich auflehnt — gegen Kirchenzucht, anti- kische Vernunft, gegen die ganze „äußere“ Herrschaftsordnung im politischen und kirchlichen Feld. „Schwärmer“, „Nonkonformisten“, „Ketzer“ — wie soll man damals jenen einzelnen und jene Kleinkirchen nennen, die augenscheinlich die Voreltern jener Sekten und religiösen Gemeinden sind, die das deutsche Gesicht des 16. bis 20. Jahrhunderts prägen werden? Bonifatius, „ein Mann von wenigen Wahrheiten“, wie Ignatius von Loyola von einem seiner engsten Mitarbeiter genannt wird, ist fest entschlossen, diesen Untergrund durch ein dreifaches Werk zu meistern: durch eine erneuerte Kirchenzucht, durch die Heranbildung eines neuen Klerus mittels Reformsynoden der Landeskirchen, und durch die Gründung bzw. Reform von Klöstern und Bistümern als Stützpunkte und Zentren eben dieser Landeskirchen, die er dem fränkischen Herrscher unterstellt: ohne dessen Hilfe hätte er nichts vermocht. So entstehen, in einer großartigen inneren Folgerichtigkeit, die Bistümer Passau, Regensburg, Salzburg, Freising, Eichstätt, Würzburg, Buraburg, Erfurt. Ein Koordinatensystem, ein Grundgerüst für jenes Zentraleuropa, das bald darauf Karl der Große politisch zusammenballen wird: alle Stoßkraft der folgenden Jahrhunderte wird hier ansetzen, in diesen Bollwerken des Westens, der eben hier aus der Verbindung der fränkischen Landes-, bald der karolingischen Reichskirche mit benediktinischer Klosterkultur, ihrem eigentümlichen liturgischen Humanismus und Rationalismus entsteht. Alles basiert auf der Grundherrschaft eines Adels, der seine Söhne immer öfter in diesen Klöstern erziehen läßt. Unsere Stifte, unsere Gymnasien, unsere Diplomatie, das eigentümliche Zusammenspiel staatlicher und kirchlicher Gewalten, das ganze so reiche innere Alphabet unseres Denkens und Fühlens basiert auf diesem Werk des Bonifatius.

Der Westen wurde dergestalt konstituiert. Es ist an der Zeit, nunmehr auch nüchtern den hohen Preis zu besehen, der bezahlt werden mußte, um diesen Westen gegen seine Umwelt, Mitwelt, gegen seinen einenen Untergrund aus- und abzugrenzen. Bonifatius beschränkt sich, nach einem ersten Scheitern, bewußt auf einen Missionsraum, den die fränkischen Waffen sichern. Ohne den Rückhalt an der „Staatsgewalt“, die ein hohes Interesse an der Unifizierung und Konsolidierung dieser disparaten Räume (Ein Reich,

Eine Kirche, Eine Organisation) besitzt, glaubt er sein Werk nicht durchführen zu können. Der nonkonformistische Untergrund ist mit den Machtmitteln des Staates zu unterwerfen. Eigentümliche Schlaglichter fallen auf den Kampf des Bonifatius gegen den nonkonformistischen Bischof Aldebert und gegen den Wanderbischof Clemens. Die „Reinigung“, die „Säuberung“ des Klerus im Sinne der „reinen Lehre“ beginnt hier bereits jene Schatten zu werfen, die die ganze deutsche Geschichte des folgenden Jahrtausends verdüstern werden. Offensichtlich ist des Bonifatius Fehlgriff in seinem langen, erbitterten Ankämpfen gegen den heiligen Virgil von Salzburg, den Bonifatius in Rom als „Häretiker“ denunziert, weil er eine Antipodenlehre vertrete — eine naturwissenschaftliche, spätantike Konzeption, die diesem gelehrten Iren, der früher Abt zu Agadoe bei Dublin gewesen war, aus dem Schatz der reichen, irischen Klosterkultur zufloß. Wir wissen heute nicht genau, wie es Virgil gelang, der Exkommunizierung durch Bonifatius zu entfliehen — Virgil wird später bekanntlich der hochberühmte Erzbischof von Salzburg —, wir wissen aber, daß in diesen und verwandten Fakten der Grund für jene Konstituierung der deutschen Reichskirche als einer der bischöflichen Herrschaftskirche gelegt wird. Als Luther auftritt, vermag (worüber man bei Lortz nachlesen kann) kaum einer der deutschen Bischöfe aus eigener theologischer Kraft ihm zu entgegnen. Diese bischöflichen Herren hatten es zwar gelernt, ein strenges Kirchenregiment zu führen, im Sinne ihrer Regierung, nicht aber, sich theologisch auseinanderzusetzen mit ihren Gegnern. Erst das Tri enter Konzil, auf dem die Deutschen nur sehr schwach vertreten sind, wird hier Abhilfe zu schaffen suchen. Die zweite Grenze des Bonifatius, sein Ueber- sehen der Ostkirche, die eben damals sich anschickte, schicksalschwere Wege zu gehen; mit dem Bilderstreit zieht ja die große Trennung zwischen Ost und West herauf. Die dritte Grenze des Bonifatius: seine Verachtung der Slawen. Unerhört scharf seine Abneigung gegen die Slawen, diese geborenen Sklaven, diese „erbärmlichsten aller Menschen“, die unwürdig sind, zum Christengott bekehrt zu werden. Hier setzt die deutsche Tragödie in einem eminenten Sinne an. Die Verachtung der Slawen — bekanntlich war es bis in die hohe Neuzeit herein in deutschen Ostlanden deutschen Priestern untersagt, die hörigen Slawen zu missionieren — der Haß gegen die Polen, Wenden, Tschechen sollte den Zusammenbruch des deutschen Ostens auslösen.

Es wäre falsch, die Engen und Irrwege in der deutschen Geschichte dem Bonifatius in die Schuhe schieben zu wollen. Wohl aber geziemt es heute, da seine Grenze überwunden werden muß, soll Westeuropa nicht in seiner eigentümlichen Angst und Enge zugrunde gehen, diese zu bedenken: sie steht in direkter Beziehung zu seiner Größe, zu seinem gewissenhaften Dienen, unermüdlichen Arbeiten.

Der „Knecht Gottes“, Bonifatius, hat diese seine Grenze selbst noch überwunden: als Achtzigjähriger überschreitet er den durch fränkische Waffen gesicherten Raum, und geht mit dem Evangelium in eben jene Lande hinein, in denen er als Vierzigjähriger den für sein weiteres Leben so entscheidungsschweren Fehlschlag erlitten hatte. Friesen erschlagen ihn. Dieses Märtyrertum ist in jeder Hinsicht etwas Außerordentliches: völlig ungewöhnlich in seiner Zeit und im ganzen folgenden Mittelalter, in dem die Bischöfe an der Spitze ihrer Heere ausziehen — verbindet es die Urkirche mit unserer Zeit und wird eben dadurch gegenwartsmächtig. Der im Hagel tödlicher Schwerthiebe zusammenbrechende greise Bonifatius öffnet dem Westen den Weg zu neuen Begegnungen, öffnet das verhärtete Erdreich der Seelen den Gewitterfluten der Gnade.

Immer noch hat die Heilkraft der Heiligen deren eigene Grenzen in ihrem Leben durchbrochen, und neue Horizonte gerade dort aufgezeigt, wo bis dahin das Unmögliche und Unwirtliche unüberwindbar erschienen.

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