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England blickt nach Europa

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Man hat den Engländern oft vorgeworfen, daß sie in der Nachkriegszeit die große Chance verpaßt haben, sich führend an der europäischen Einigungsbewegung zu beteiligen und mit ihrer reichen politischen Erfahrung einem geeinten Europa von Anfang an beizustehen. Man mag dabei oft unterschätzen, wie stark geographische und besonders historische Faktoren wie auch die enge Bindung Großbritanniens an das Commonwealth einer solchen klaren Entscheidung für Europa im Wege stehen. Die traditionelle Politik Englands, der es seine historische Größe verdankt, war die Politik der „Balance of Power“, deren Ziel es gewesen ist, stets jener kontinentalen Macht entgegenzutreten, die das politische Ueber- gewicht in Europa an sich zu reißen drohte. Der Platz Spaniens im 16. und 17. Jahrhundert wurde im 18. und ,19. Jahrhundert von Frankreich eingenommeil, in unserem Jahrhundert traten Hitler-Deutschland und Sowjetrußland an dessen Stelle.

Diese Jahrhunderte stecken den Engländern im Blut. Dazu kommt jene Entfremdung von Europa, die das Resultat der englischen Reformationsbewegungen gewesen ist. Solche tiefverankerten Ueberlieferungen lassen sich schwer in einem konservativen Volk, wie es die Engländer sind, überwinden, und wenn m i auch heute dabei ist, sich schlecht oder recht nach der Decke der wirtschaftlichen und politischen Realitäten der modernen Welt zu strecken, kann von einem echten Verlangen nach Europa in England noch keine Rede sein. Immerhin ist etwa die Einführung des belgischen Gewehrs durch die konservative Regierung gegen einen nationalistischen Entrüstungssturm Labours als ein Zeichen zu werten, daß England heute in wachsendem Maße sich seiner europäischen Stellung bewußt werden muß.

Aber wenn auch der Durchschnittsengländer noch immer dem Kontinent gegenüber fühlen mag, was die „Times“ vor langer Zeit, als einmal eisige Stürme die britische Küste umtobten, mit der Ueberschrift zum Ausdruck brachte: „Kontinent isoliert!“, so gibt es doch in England eine ganze Schicht europäisch denkender und fühlender Menschen. Zu ihnen gehören die englischen Katholiken, heute keineswegs mehr die unbedeutende und verächtliche Minderheit, als die sie noch vor 50 Jahren von ihren Landsleuten angesehen wurden. Hilaire Belloc mag ihnen oft eine falsche Sicht der europäischen Geschichte geboten haben, aber er und andere haben jedenfalls ein starkes europäisches Zugehörigkeitsgefühl in ihnen verankert.

Deswegen ist es als wesentlicher Beitrag zu dem gegenwärtigen englischen Umlernungs- prozeß anzusehen, wenn im kommenden Juni die englischen Katholiken ihren Landsleuten an Hand der Feiern zum 1200. Todestag des heiligen Bonifatius (5. Juni) einen Anschauungsunterricht in europäischer Zusammengehörigkeit erteilen werden.

England erinnert sich seines großen Sohnes, den es nach Deutschland entsandte, nicht häufig. In Schule und Universität mag man sich der Missionsarbeit dieses Benediktiner- mönches bewußt sein, aber was war schon die Bekehrung einiger weniger barbarischer Stämme, der Hessen, Sachsen und Friesen, wenn man diese mit dem gewaltigen gleichzeitigen Verlust der zivilisierten nordafrikanischen und spanischen Gebiete vergleicht, wo die Kirche bislang führend an der Entwicklung des christlichen Lebens und Denkens beteiligt war! Es blieb Historikern wie Lord Bryce und Christopher Dawson vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß das Werk des heiligen Bonifatius und seiner angelsächsischen Begleiter weit über die materiellen Resultate seines Apostolats hinausging und mehr als jeder andere Faktor dazu beitrug, die Grundlagen der mittelalterlichen Christenheit zu legen.

„Seine deutsche Mission", so schrieb Dawson, „war nicht das isolierte geistliche Abenteuer seiner keltischen Vorgänger, sondern Teil eines weitsichtigen Programms des Aufbaus und der Reform, das mit der Methodik und staatsmännischen Kunst römischer Traditionen geplant worden war. Seine Bedeutung war das dreifache Bündnis zwischen angelsächsischen Missionaren, . dem Papsttum und den Merowingern, aus dem sich letztlich das karolingische Reich und die karolingische Kultur entwickelten. Die direkte Verbindung mit Rom als apostolischer Legat für Deutschland ermöglichte es dem hl. Bonifatius, die zentrifugalen Tendenzen der auf dem Kontinent noch vorherrschenden keltischen Tradition zu überwinden und die Störung seiner Tätigkeit durch lokale gallische Bischöfe zu verhindern. Zugleich sicherte ihm die Verbreitung christlicher

Kultur in Deutschland die Unterstützung der Söhne Karl Martelis, die den Reformen innerhalb der fränkischen Kirche zugute kamen."Diese Verbindung zwischen „Reformierten“ und der neuen Monarchie wurde im Jahre 752 durch die religiöse Weihe Pifffns zum König der Franken durch Bonifatius selbst zu Soissons besiegelt und durch Papst Stephan II. in St-Denis zwei Jahre später bestätigt, als ob damit tatsächlich der Anfang einer neuen Epoche abendländischer Geschichte verkündet werden sollte. Und dies alles wäre undenkbar ohne die monastischen Gründungen des heiligen Bonifatius und seiner Mönche, die zu Mittelpunkten christlicher Kultur und Missionstätigkeit in den neubekehrten Ländern wurden und die die neue Art der in Northumbria entstandenen christlichen Kultur den deutschen Völkern anpaßte und übermittelte. Die Benediktiner- abtei hatte das Erbe der absterbenden Stadt angetreten und blieb das Zentrum mittelalterlicher Kultur bis zum Heranwachsen einer neuen Art der Stadtgemeinschaft im 11. und 12. Jahrhundert.

Der Geburtsort des heiligen Bonifatius war Crediton in Devonshire in Westengland, heute wieder eine kleine Landstadt, wie sie es vor 1200 Jahren gewesen sein mag. Dazwischen liegt eine bewegte Geschichte: der große Aufstand im- Jahre 1549 des katholischen westlichen Englands gegen die Bemühungen der Regierung Eduards VI., die lateinische Messe durch das englische Gebetbuch zu ersetzen. In Crediton wurden damals einige Scheunen niedergebrannt, und der Chronikschreiber verewigte den Aussprucheiner alten Frau, die öffentlich ihren Rosenkranz gebetet hatte und deswegen belästigt worden war:

„Jetzt müssen wir sogar den Rosenkranz lassen; kein geweihtes Brot mehr, kein Weihwasser! Alles ist uns genommen oder wird uns genommen werden — sonst brennen euch die Herren eure Häuser über den Köpfen nieder."Im 18. Jahrhundert war Crediton zu einem blühenden Zentrum der Wollindustrie Westenglands geworden, der dann die Erfindung der Dampfmaschine ein Ende setzte.

Unter den alten katholischen Familien Westenglands gibt es noch die eine oder andere, die durch die Verfolgungszeiten hindurch dort ansässig waren. Die Mehrzahl der 21.000 Katholiken der katholischen Diözese von Plymouth sind jedoch Zugewanderte, und selbst die heutige, dem heiligen Bonifatius geweihte Kirche dort entstammt nicht einer fernen Vergangenheit, sondern wurde vor 20 Jahren von den Methodisten erworben, denen sie früher als Gebetshaus gedient hatte.

Nach Crediton werden im Juni die Boni- fatiuspilger aus der katholischen Welt gehen, aber die Hauptfeierlichkeiten werden in Plymouth und in der Benediktinerabtei Buckfast stattfinden, letztere mit besonderen Beziehungen zu Deutschland, da deutsche Mönche hier zur Zeit des Bismarcksehen Kulturkampfes eine Zuflucht fanden. Der heute zum größten Teil anglisierten Gemeinschaft steht ein deutscher Abt, Monsignore Fehrenbacher, vor.

Kardinal Griffin, der Erzbischof von Westminster, gewährte Ihrem Korrespondenten ein Interview, in dem er erstmalig Einzelheiten über die geplanten Veranstaltungen bekanntgab. „Als ich im Jahre 1945 Kardinal Faulhaber in dem kleinen Zimmer in München besuchte, das er damals bewohnte“, erzählte Kardinal Griffin, „sprach er Worte, die mir unvergeßlich geblieben sind: ,Bonifatius kam nach Deutschland und brachte den katholischen Glauben. Sie sind gekommen, um den Olivenzweig des Friedens zu bringen!' “

Dieser Worte eingedenk, hat die katholische Hierarchie von England und Wales sowie die von Schottland Kardinal Faulhabers Nachfolger, Kardinal Wendel, und Kardinal Frings, für den 19. und Ž0. Juni nach Plymouth eingeladen. Einladungen wurden ferner bisher angenommen vom Erzbischof von Paderborn, dem Bischof von Hildesheim, dem Bischof von Münster und dem Weihbischof von Fulda. Aus Holland haben zugesagt der Weihbischof von Utrecht, aus Belgien der Bischof von Gent, aus Frankreich der Bischof von Quimpere und aus Dänemark Bischof Suhr. Die beiden irischen Erzbischöfe und Kardinal Feltin von Paris werden vielleicht ebenfalls die Gastfreundschaft des Bischofs von Plymouth, Msgr. Francis Grimshaws, annehmen.

Kardinal Griffin, der persönlich an den Feierlichkeiten in Fulda vom 5. bis 12. Juni teilnehmen wird, erklärte Ihrem Korrespondenten, daß die englischen Gedenktage des heiligen Bonifatius sozusagen den Abschluß der deutschen Diözesanveranstaltungen in Fulda und zugleich die Vorbereitung auf die allgemeinen Feiern in Fulda am 1. und. 2. September bilden werden.

Das Geburtsland des heiligen Bonifatius wird nicht mit dem Massenbesuch konkurrieren können, der zweifellos in Fulda zu erwarten ist, aber die englischen Katholiken werden ihr Bestes tun, aus allen Teilen des Landes Abordnungen nach Plymouth zu entsenden; dort wird am Nachmittag des 20. Juni im Argyle Stadion ein großer Festzug stattfinden, der die Geschichte des katholischen Glaubens in Westengland lebendig illustrieren soll. Abschließend wird Kardinal Griffin ein Pontifikalamt zelebrieren.

Der Katholizismus im heutigen Westengland führt ein Diasporadasein, in das die hohen kirchlichen Gäste einen Einblick tun können, da geplant ist, sie in verstreut gelegenen Gemeinden unterzubringen, so daß einer so großen Anzahl von Katholiken wie möglich die Teilnahme an Gottesdiensten ermöglicht werden kann. Die Plymouth-Diözese erstreckt sich auf ein weites Gebiet mit zumeist sehr kleinen katholischen Gemeinden, so daß einem Großteil der Priester dort die Erlaubnis erteilt werden mußte, drei Messen täglich zu lesen.

Vor der Abreise am Montag, den 21. Juni, werden die ausländischen Gäste zum Schrein des seligen Cuthbert Mayne in Launceston geführt werden, der im Jahre 1577 dort der Lesung der heiligen Messe überführt und unter großen Foltern zum Tode verurteilt wurde

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