Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Vergiß dich, um zu sein
Es schien mir stets das Wünschenswerteste, meiner Mitbürger Wohl unmittelbar fördern zu können. Und stets trat bei diesem Gedanken das Bild des Arztes vor meine Seele”, schrieb der 1806 geborene Ernst Freiherr von Feuchtersieben, der von seinen Eltern eigentlich zum Staatsdienst bestimmt war, über die „Beweggründe seiner Berufswahl” an seinen Vater, der erst nach langem Zögern den Wunsch seines Sohnes erfüllte.
Mit einem Schlag bekannt wurde Feuchtersieben mit dem Buch „Diätetik der Seele”. Zuerst nur mit vierzig Gulden entlohnt, erlebte das Werk 50 Auflagen bis 1907. Der früh halb verwaiste, im Kindesalter kränkliche Feuchtersieben hatte schon in seinen 'zwölf Internatsjahren die Wechselwirkung zwischen körperlichen und seelischen Zuständen an sich selbst beobachtet. Nun legte er, wie Elisabeth Keppelmüller über Feuchtersieben in der „Neuen österreichischen Biographie” über „Große Österreicher” schrieb, ein „Hilfsbrevier für seelisch Bedrohte”, ein „Trostbuch für Verzagte” und ein „Preislied auf den Menschen-geist” vor, das bei einem immer größer werdenden Leserkreis das Interesse an den Selbstheilungskräften weckte -eine Lehre, die Franz Grillparzer in zwei kleine Verse faßte: „Entsag' - um zu genießen / Vergiß dich - um zu sein!”
Wie Friedrich Hebbel, der Herausgeber der literarischen Werke Feuchterslebens, berichtete, behandelte er als junger Arzt arme Patienten umsonst und erhielt als Adeliger von wohlhabenderen Patienten oft nur überflüssige Luxusgegenstände. „Um die spärlich fließenden Quellen der Existenz zu vermehren, wurde zur Schriftstellerei, sowohl zur medizinischen, wie zur belletristischen, gegriffen.”
Aus dem Vorstadtarzt Feuchtersieben wurde der Dekan der medizinischen Fakultät. 1844 veröffentlichte er seine gesammelten Universitätsvorlesungen unter dem Titel „Lehrbuch der ärztlichen Seelenheilkunde”. Es wurde 1847 auch in London veröffentlicht und jahrzehntelang in England, Holland, Rußland und Frankreich als Lehrbuch verwendet.
Ganzheitliche Medizin vorweggenommen
Jeder Arzt sollte nach Feuchtersieben auch Seelenarzt sein. Grundlage sämtlicher Behandlungsmethoden sollte das Zusammenwirken von körperlicher und seelischer Therapie sein. Erna Lesky nennt Feuchtersieben in ihrem Werk über die „Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert” einen Pionier der Psychosomatik und Psychohygiene. „Seele und Leib durchdringen sich aufs innigste”, be-mte Feuchtersieben und „so sind es keineswegs bloß die Seelenkrankheiten, welche den psychologischen Arzt verlangen, sondern ebenso oft die körperlichen”. Damit nahm er die heute angesichts der Zunahme psychosomatischer Erkrankungen wachsende Einsicht in die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Medizin bereits vorweg.
Vielleicht lag es an der Vielseitigkeit Feuchterslebens als Dichter und Aphoristiker, Literaturkritiker und nicht zuletzt als der die Reform des gesamten Bildungswesens in Angriff nehmenden Unterstaatssekretär im Unterrichtsministerium des Jahres 1848, daß sein Stellenwert für die Seelenheilkunde in Vergessenheit geriet. Anläßlich des Weltkongresses für Psychotherapie in Wien sollte der vergessene Pionier jedoch wieder in Erinnerung gerufen werden.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!