Handwerker der Bühne

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Der Dramatiker Jean Anouilh, einst weltberühmt, heute weitgehend vergessen, wäre kürzlich 100 Jahre alt geworden. Schon zu Lebzeiten herrschte ein Rätselraten um seine Person.

Die Bühne zeigt das Arbeitszimmer des Monsieur Ornifle, eines fiktiven Pariser Erfolgsautors. Als der Vorhang sich hebt, sieht man ihn nachdenklich auf und ab gehen. Eine Frau sitzt daneben am Flügel und schlägt ein paar Akkorde an. Es ist später Vormittag. Lustlos und uninspiriert arbeitet Ornifle an einem neuen Chansontext, diktiert der Frau am Flügel schließlich einige Strophen. Es dauert nicht lange und ein grobschlächtiger Mann betritt den Raum. Es ist Monsieur Machetu, der Verleger, der schon ungeduldig auf den neuen Text wartet. Kaum dass er ihn gelesen hat, beginnt er daran herum zu mäkeln, was die Frau am Flügel in Rage bringt. „Monsieur Ornifle ist ein Dichter!“, weist sie Machetu empört zurecht, worauf dieser erwidert: „Echte Dichter verhungern und arbeiten gratis. Ich finde solche Kerle zwar schauderhaft, aber ich ziehe den Hut vor ihnen. Ihr Chef ist der bestbezahlte Chansontexter von Paris. Das ist etwas anderes. (...) Jawohl, ein Text-Fabrikant! Alles auf der Welt muss fabriziert werden, auch ein Liedertext.“

Keine bestimmten Vorstellungen

Dass auch Stücke fabriziert werden müssen, nach bewährten Mustern und Rezepten, das wusste der Verfasser dieser Komödie um den Herrn Ornifle, Jean Anouilh, nur allzu gut. Sohn eines Schneiders und einer Orchestermusikerin, verstand er sich in erster Linie als Handwerker, der, ganz in der väterlichen Tradition, solide Maßarbeiten lieferte, und fühlte sich daher auch nicht in seiner Berufsehre gekränkt, wenn man ihn als einen „Stückefabrikanten“ bezeichnete. Dieser betont handwerkliche Zugang gestattete Anouilh größtmöglichen Abstand zu seiner Arbeit, zu den Texten und Figuren, die er im Laufe seines Lebens für das Theater schuf. Kein einziges seiner Stücke ist direkter, ungebrochener Ausdruck seiner Persönlichkeit, und nach der Lektüre seiner Gesammelten Dramen hat man keine bestimmte Vorstellung davon, was für ein Mensch er gewesen sein mag.

Schon zu seinen Lebzeiten herrschte allenthalben großes Rätselraten, selbst unter Eingeweihten. So gab etwa 1960 der Schriftsteller Marcel Aymé in der Zeitschrift „Livres de France“ Folgendes zu Protokoll: „Es kommt vor, dass man mich fragt, ob ich Jean Anouilh kenne, und ich antworte mit einem unsicheren Ja, einem Ja mit drei Pünktchen dahinter. Wenn man mich sehr drängt, füge ich hinzu, dass er sehr schöne Augen hat, eine Brille, einen rotblonden Schnurrbart, und dass er den Scheitel auf der Seite trägt. Wenn ich nicht mehr sage, so deshalb, weil ich, was das Übrige anbelangt, nichts Bestimmtes weiß.“ Ähnliches galt wohl auch für Pol Vandromme, den Verfasser des Buches „Jean Anouilh – un auteur et ses personnages“, der ersten großen Monographie über den Dramatiker, denn darin findet sich der lapidare Satz: „Mit Sicherheit kann nur gesagt werden, dass Anouilh existiert. Darüber hinaus ist jede Hypothese erlaubt, und alle widersprechen sich.“

Erfolgreich von Premiere zu Premiere

Anouilh selbst bekannte einmal in einem Brief an den Regisseur Hubert Cignoux. „Ich habe keine Biographie und bin darüber sehr froh“, um im selben Atem doch noch einen knappen biografischen Abriss zu geben: „Ich bin am 23. Juni 1910 in Bordeaux geboren, kam früh nach Paris und besuchte die Colbert-Schule und das College Chaptal. Anderthalb Jahre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät von Paris und zwei Jahre in einem Werbeunternehmen, wo ich eine Lehre in Präzision und Scharfsinn durchmachte, die mir dichterische Studien ersetzte. Nach ‚L‘Hermine‘ (1931) entschloss ich mich, nur noch vom Theater und ein wenig vom Film zu leben.“

Von da an wurde sein Lebens- und Schaffensrhythmus vor allem durch die Spielpläne jener Pariser Theater bestimmt, mit denen er kontinuierlich zusammenarbeitete. Unbeirrt und unbeirrbar durch neue Theatermoden, ging er von Premiere zu Premiere, von Erfolg zu Erfolg: Nach dem Durchbruch 1937 mit der düsteren Gesellschaftssatire „Der Reisende ohne Gepäck“ folgte, unter dem Einfluss von Jean Giraudoux, den er zeitlebens als seinen wichtigsten Meister verehrte, eine Trilogie von Antikendramen („Eurydike“, „Antigone“ und Medea“) und nach dem Krieg Komödien wie „Einladung ins Schloss“ und „Walzer der Toreros“ (der 1963 mit Peter Sellers verfilmt wurde).

Ab den 1960er-Jahren wendete sich das Blatt

Immer wieder hat Anouilh Historiendramen geschrieben, ohne dabei den Anspruch auf historische Exaktheit zu erheben, hat mit „Jeanne oder Die Lerche“ und „Becket oder Die Ehre Gottes“ dem modernen christlichen Theater wertvolle neue Impulse gegeben, ohne dabei seine große Distanz zum christlichen Dogma aufzugeben. Galt er anfänglich als „junger Wilder“ und wurde er nach 1945 insbesondere auch im deutschen Sprachraum als existenzialistischer Dramatiker, als ein Autor, der die Mittel des Theaters nicht nur beherrscht, sondern auch reflektiert und dem es nicht um Illusion und Verzauberung, sondern um Desillusionierung zu tun ist, weithin geschätzt und permanent aufgeführt, so wendete sich im Laufe der 1960er Jahre allmählich das Blatt: Der Theaterbetrieb veränderte sich damals von Grund auf und verlangte nach anderen, radikaleren Autoren. Engagement war nun die Losung des Tages; die Theater wurden mehr und mehr zu Stätten der Diskussion, und ein so introvertierter, politisch nur schwer festzulegender Autor wie Anouilh geriet als Vertreter eines verspielten, unverbindlich glatten Unterhaltungstheaters ins Abseits. In den letzten beiden Dezennien seines Lebens ist er kaum noch mit neuen Stücken hervorgetreten; seine Laufbahn ähnelt somit auf frappante Weise jener des österreichischen Dramatikers Fritz Hochwälder (1911-1986), denn auch Hochwälder war in der Nachkriegszeit als Erneuerer der Tradition gefeiert worden, galt jedoch nach 1968 als ein „Autor von gestern“ und verlor schlagartig an Resonanz.

Für Anouilh, der nicht nur Bühnenautor, sondern auch ein Praktiker der Bühne war, ständig von Schauspielern umgeben und mit Inszenierungen befasst, ist zwar nicht die ganze Welt ein Theater, wohl aber das ganze Leben ein einziges großes Rollenspiel.

„Wir können nur unsere Rolle spielen, jeder die seine, ob sie gut oder schlecht ist, wenn das Stichwort da ist“, sagt Bischof Couchon in „Jeanne oder die Lerche“, und damit ist keineswegs bloß ein dramaturgisches Prinzip ausgesprochen, sondern eine – nur scheinbar simple und affirmative – Weltanschauung, die Anouilh nie verkündet hat, doch immer wieder, in vielen verschiedenen Varianten, thematisiert und gestaltet.

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