Jenseits von Mühsal und Plage

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Erlebniswelten liefern synthetische Phantasien und Schönheiten für eine Welt, die ihre eigenen Träume und Sehnsüchte längst zerstört hat.

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Erlebniswelten liefern synthetische Phantasien und Schönheiten für eine Welt, die ihre eigenen Träume und Sehnsüchte längst zerstört hat.

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Schon die eigens gebaute Autobahn demonstriert, daß hier hochprofessionelle Erlebnisarchitekten am Werk sind. Die Zufahrt liegt genau auf der Hauptachse des Parks. Daher leuchten schon von weitem am Horizont die hellrosa Türmchen des Disneyland-Hotels. Obwohl bei Überschreiten der Grenze, erkennbar daran, daß der Rasen eine golfplatzähnliche Qualität annimmt, niemand einen Paß verlangt, ist zu spüren, daß hier eine völlig andere Welt beginnt. Hier enden Mühsal und Chaos der Realwelt. Die soziale Frage ist vergessen, die Politik messerscharf ausgegrenzt.

Nur nominell liegt das größte Erlebniszentrum Europas auf dem Territorium der Republik Frankreich. In Wahrheit ist es ein exterritorialer Raum, Symbol der Irrelevanz des Ortes im globalen Kapitalismus. Hier haben die unsichtbaren Gesetze der künftigen Erlebnisrepubliken die Herrschaft übernommen. Hier kann, wer will, den neuen Privatstaat des 21. Jahrhunderts studieren. Aber wer ist so verrückt, das zu tun? Hier geht es um Unterhaltung, um eine Reise in ein Traumland, um Vergessen und Wiedererinnern.

In diesem Supermarkt der Träume regiert die Postmoderne. Absolute Beliebigkeit verwirrt die Raster, die dem modernen Menschen das Überleben draußen sichern. Plüschtiere und Horror nebeneinander. Wäre nicht der ständige Lärm und die immer nette, auf Harmonie bedachte Musikkulisse, würde man diese perfekte gigantische künstliche Stadt von den Menschenmassen säubern und würden die an den Alltag erinnernden Gerüche nach Popcorn und Zuckerwatte vom atlantischen Westwind wegblasen werden, dann würde das Ganze wohl als surrealistisches Gesamtkunstwerk gelten können.

Das Park besteht aus fünf Erlebniskontinenten. Sie symbolisieren die großen Träume der Menschen und setzen diese zeitgemäß um. Den Kaufrausch (Main Street), die Liebe zu Events (Paraden unter Teilnahme von vielen lustigen und mythischen Figuren, die allesamt bekannter sind als die führenden Opernsänger, von den Politikern ganz zu schweigen), Adventureland (Sehnsucht nach Gefahr und Freiheit: Orient, Afrika, Piraten), Frontierland (Wilder Westen; empfehlenswert, ein Truthahnschenkel im "Last Chance Cafe", einem Schlupfwinkel für Banditen und Viehdiebe), Discoveryland (Zukunft und Technik: hier kann man sich ins Weltall schießen lassen und nachher ein Photo mit der Inschrift "I have survived" kaufen), Fantasyland (Märchen, Lieblichkeit, rosarote Putzigkeit).

Das postmoderne Grundmuster erlaubt jede Kombination. Alles verfließt ineinander, Thrill und Bambi, Weltall und Grauen. Mit einer frechen Unbekümmertheit ohnegleichen werden hier die Regeln und Tabus, welche die reale Welt so kompliziert machen, ignoriert. Es wird hier so leicht gemacht, das Leben in seiner Zerfransung, Öde, Zerhacktheit und Fadesse zu vergessen. Eine Flucht in Erlebnispackages, Traumhappen, Identifikationen, Rollenwechsel, zappen von einem Eindruck zum anderen, durchwegs leichte Kost, für ein paar Stunden spielt man im großen Weltroman am Rande flanierend ein wenig mit.

Kleine Traumhappen Die radikal verwirklichte freie Kombination von Erlebnisfragmenten, Traumhappen und Utensilien aller Art ist für den kulturbetonten europäische Puristen, der Wert darauf legt, welches Olivenöl zu welchem Salat paßt und der sich die Frage nach der Stilrichtung des Dornröschenschlosses nicht beantworten kann, eine ziemliche Herausforderung. Aber nach einem tiefen Blick in das Plüschgesicht von Winnie, dem Philosophen im Figuren-Zoo der Disney-Familie, wanken die zurechtgelegten Arbeitshypothesen.

Abschied nehmen muß der gelernte Bildungs-Europäer auch von festgefahrenen politischen Vorstellungen. Disneyland ist eine Monarchie. Die unvollkommenen Menschen wurden zu Recht und unter offensichtlich breitester Zustimmung der Besucher durch Tierwesen mit humanoiden Zügen abgelöst. Mickey, Pluto, A-Hörnchen und Baloo sind die unumstrittenen Stars. Mickey, Seine Hoheit, zelebriert Autogrammstunden, in unterwürfiger Begleitung von menschlichen Butlern, die flüsternd um den autogrammgebenden Kaiser herumschwirren. Man wartet oft lange, manchmal Stunden auf ein Autogramm und das obligate Photo.

Auch in den Hotels spricht man von Mickey mit besonderer Hochachtung, als verdanke man ihm - was in gewisser Weise richtig ist - den Arbeitsplatz. Die im Hotelrestaurant bestellte Kinderpizza, die wie so vieles durch die völkerverbindende, multikulturelle Mischmaschine geschickt wurde (Belag: Tomaten mit Chili con carne) - kommt zu spät. Dafür wird eine Gratisnachspeise serviert, mit lieben Grüßen von Mickey.

Einige hundert Meter genügen jeweils, um in eine andere Welt zu kommen. Im Niemandsland zwischen Main-Street und Adventureland wird der Boden langsam sandig. Da ist sie wieder, die fanatische Liebe zum Detail. Die Farbe des Sandes nimmt einen Durchschnittswert zwischen dem fahlen Gelb der Rub al Khali in einem Sandsturm und den rötlichen Sandgebirgen im Sinai an. Orientalische Mauern, Türme, bunte Laternen, Palmen bieten einen perfekten Orient light: nett, clean, künstlich, ästhetisierend, mit sauberen Toiletten, Popcorn in zwei Varianten, ohne Bettler, aber auch ohne die Gerüche nach Sandelholz und Gerbereien.

Etwas weiterer hinten liegt Afrika. Mit zusammengekniffenen Augen und etwas Phantasie kommt Safari-Feeling auf. Ein alter Jeep befördert diese Assoziation. die Haufen von Plastikschlangen und sonstigem Getier in allen Größen und Farben holen den Tagträumer wieder zurück.

Wäre das Gewühl nicht so groß, könnten gerade in diesem Teil des Parks unpassende Gedanken durch den Kopf schießen, zum Beispiel die Frage, warum denn um Gottes Willen der reale Orient, die alte Karibik, das dunkle geheimnisvolle Afrika im Sterben liegen (müssen) und hier, auf einem recht gewöhnlichen Wiesenareal mitten in Europa, die unermessliche Schönheit und Vielfalt der Welt als synthetisches Puzzle wieder aufgebaut wird. Sind wir wahnsinnig, die Größe der Natur und die Vielfalt der Erde gegen Karnevalszüge, gegen Natur- und Menschen- und Geschichtszoos einzutauschen?

Eroberungswut Aber seien wir nicht ungerecht: Disney hat das alte Afrika nicht kaputtgemacht. Die Täter sitzen woanders und immer noch aktiv in den Regierungsbüros und Parlamenten - und ihre ideologischen Hofnarren, deren Nachfahren sich in kulturkritischer Empörung gegen das Disneyland erhoben haben, sie waren es, die den geistigen Entwurf für die Eroberungswut der Moderne geliefert haben und die seit Jahrhunderten einer manischen Fortschrittswut nach dem Mund reden.

Disney liefert nur den Illusionszirkus für eine Welt, deren Geheimnisse sterben, und bewahrt diese Erinnerungen, so gut es eben geht, auf. Für Minuten blühen die verschütteten Tiefen des eigentlichen Lebens. Für Minuten kann man in der Figur des angeblichen Schurken Captain Hook. mit seiner Eisenhaken-Hand, die Imagination des Bösen und seine Tragik spüren. Obwohl gerade im Disneyland das Geld das entscheidende Regulativ ist, werden den Menschen Ahnungen des Abenteuers, Ahnungen des Bösen, Ahnungen des Dämonischen, Ahnungen des kindlich-märchenhaften Happy-End geboten. Das politische Konzept des Erlebnismarktes ist dem politischen Konzept der Realwelt, in der der Staat das Konkrete und Wichtige im Leben beharrlich negiert, turmhoch überlegen. Die für den Zustand der Realwelt Verantwortlichen haben keinen Sinn für die Verarmung des Lebens. Die Antwort auf die heutigen immateriellen Verarmungen geben die Märkte und nicht die Politik.

Feierliche Musik An den Abenden, bevor die Parks schließen, versammelt ein Feuerwerk die Besucher auf dem großen Platz vor dem 45 Meter hohen Dornröschenschloß. Das Feuerwerk ist überirdisch perfekt, mit bunten Nebeleffekten und choralhaft feierlicher Musik, die irgendwo zwischen Olympia und Independance Day liegt.

Am Ende schwebt eine fast feierliche Stimmung über den Phantasiegebilden. Eine völkerverbindende spirituelle Stimmung steht im Raum. Man würde sich nicht wundern, wenn einander die Menschen die Hand reichen würden. Hier sind die Ansätze der neuen Weltordnung zu erkennen. Sie entwickelt eine große lebensumspannende Erzählung, die aus den Welten von Film, Mythen und Märchen, den symbolträchtigsten Leitfiguren der menschlichen Vorstellungswelt (Herkules, Hexe, Cäsar, Pirat, Fee ...), also aus den auf der Entertainment-Ebene energetisch aufgeladenen Sinnvorräten der Menschheit gespeist wird. Schönheit, Abenteuer, Sicherheit, Glück, Familie, Moral. Vernichtung des Bösen. In der Luft schwebt die tiefe Emotionalität der Schlußszenen der meisten Disney-Filme: Tränen und Happy End, oder auch große Traurigkeit, aber Neuanfang (König der Löwen, Bambi, Dumbo). Hier werden Mythen so gut verkauft, weil sie wiedererweckt werden.

Es erscheint daher voreilig, wenn 50 Kilometer weiter in Paris die postmodernen Denker das Ende der großen Geschichten ausgerufen haben. Die Erlebnisindustrie wird, ökonomischen Gesetzen folgend, die spirituellen und existentiellen Dimensionen der Glücksfrage aufgreifen. Sie wird den narrativen Überbau einer neuen zivilen Welt herstellen. Sie liefert in einer zweiten Welt die Abziehbilder jener Glücksgefühle, die von der ersten Welt, der Realität, verweigert werden.

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