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Die produktive Opernkrise

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FURCHE: Opernkrise ist seit Jahren ein Schlagwort der Musik-loelt und man glaubt, daß die Zeit des Ensembletheaters endgültig vorbei sei; haben Sie in Ihrer Tätigkeit in Stuttgart und jetzt in München diese Thesen begründet gefunden?

RENNERT: Ich glaube, daß sich das Theater immer in einer gewissen Krise befindet und daß nur in einem krisenhaften Zustand produktive Arbeit möglich ist. Ensembletheater oder nicht — das ist ein altes Problem, und man weiß heute, daß es das Ensembletheater, wie es vor dem Krieg existierte, heute nicht mehr geben kann, und zwar weil der Bedarf an Opern viel größer geworden ist, ja, der Bedarf an Opern ist so gestiegen, daß die „ersten“ Sänger gar nicht ausreichen, diesen Bedarf zu erfüllen. Man kommt also notgedrungen dazu, sich eine erste Garnitur von Sängern mit anderen Theatern zu teilen, man findet in jedem Theater — wie es polemisch manchmal gesagt wird — die gleichen Sänger. Das heißt aber nicht, daß man den Ensemblegedanken aufgeben will oder aufgeben sollte. Ich bin der Meinung, und habe das auch in München realisiert, daß man erste Sänger durchaus für eine Reihe von Monaten festlegen kann, dadurch ist man schon in der Lage, auf Jahre hinaus zu disponieren und erstklassige Aufführungen zu gewährleisten. Ein Ensemble bildet sich nicht nur dadurch, daß die verschiedenen dazugehörigen Sänger das ganze Jahr gemeinsam an einem Theater engagiert sind, sondern vor allem durch die gemeinsame Arbeit.

FURCHE: Glauben Sie nicht, daß das von Ihnen geschilderte Prinzip eigentlich mehr dem Stagione-als dem Ensemblegedanken verbunden ist, nämlich, daß mit einer Reihe von Sängern für mehrere Aufführungen intensiv geprobt wird, um sie dann wieder in alle Winde flattern zu lassen?

RENNERT: Das ist richtig, das Stagioneprinzip gewährleistet einen hohen Qualitätsstandard dadurch, daß eine Reihe von Aufführungen in derselben Besetzung geboten werden kann. Das reicht aber für unseren großen Repertoireumfang nicht aus. Und wir brauchen, da wir auf mehrere Jahre hinaus disponieren müssen, auch ein Stammensemble, welches in vielen Aufführungen quer durch das Repertoire eingesetzt werden kann. Ich- glaube“ schön, daß wir daher noch von Ensemble sprechen können.

FURCHE: Führt eine so hektische Zeit, in der das Flugzeug für den Sänger eine Selbstverständlichkeit geworden ist, nicht dazu, daß der Nachwuchs sich nicht mehr richtig entwickeln kann? RENNERT: Junge Sänger, die noch nicht bekannt sind, haben auch heute noch Zeit, sich in Ruhe zu entwickeln. Die Zeiten, in denen junge Sänger dem Trend nach dem Nur-Geld-Verdienen, nach Bekanntwerden, nach Publicity, nachgegangen sind und sich dadurch nicht in Ruhe entwickeln konnten, sind endgültig vorbei. Dies war in den fünfundfünfziger und sechziger Jahren der Fall,- inzwischen weiß man, daß dies nur zum Schaden der jungen Sänger geschieht, und man ist inzwischen schon wieder willens, sich an einem guten Theater festzusetzen, wo man in Ruhe sein Repertoire erarbeiten kann.

FURCHE: Eine andere Schwierigkeit für das heutige Operntheater ist zweifellos die Spielplangestaltung. Kritiker der Spielpläne deutscher und italienischer Opernhäuser meinen, man spiele immer wieder nur die Opern von Mozart bis Richard Strauss und von Verdi bis Puccini, während die wenigen Aufführungen moderner Opern eigentlich nur für Snobs und Kritiker bestimmt seien. Glauben Sie nicht, daß dies die Gefahr in sich birgt, daß der Spielplan eines Tages zu eng und damit zu uninteressant werden wird?

RENNERT: Diesem Gedanken kann man sich nicht verschließen. Es gibt viel zuwenig moderne Werke, die dazu dienen könnten, die Oper als Phänomen auch in der Zukunft lebendig zu halten. Von der zeitgenössischen Produktion her, was das große klassische Repertoire betrifft, bin ich aber der Meinung, daß sich die großen Werke des 18. und 19. Jahrhunderts, wenn sie in einer heute modernen Form dargeboten werden (wobei die Frage:Was ist heute modern? noch ein weiteres Kapitel ist), eben auch zu einer modernen Spielplangestaltung und einer modernen Reproduktion dieser Werke führen können. Aber moderne Opern um jeden Preis aufzuführen, halte ich für ein absolut verlorenes Rennen; dafür ist mir mein Budget zu schade. Wenn man moderne Opern spielen will, und zwar mit Publikumserfolg spielen will, dann muß es sich um echte bedeutende Werke unseres Jahrhunderts handeln, dann ist jeder Einsatz zu vertreten. FURCHE: In München gab es im Herbst Demonstrationen vor der Oper: Glauben Sie, daß man die Jugend mit dem derzeitigen Spielplan für die Oper begeistern kann?

RENNERT: Wer geht überhaupt in die Oper? Wer bringt genügend musikalische Voraussetzungen mit, von der Oper direkt berührt zu werden? Es ist ein Erziehungsproblem, ein musikalisches Problem und erst dann ein Zeitproblem. Die Jugend, die begeistert in die Oper geht, wird nicht draußen protestieren.

FURCHE: Es wurde aber zweifellos auch gegen die Spielplangestaltung protestiert. RENNERT: Wie sich die Jugend zur Oper verhält, zu einer Wiedergabe einstellt, ist außerordentlich interessant. Ich habe zum Beispiel vor einiger Zeit Rossinis „Türke in Italien“ als Persiflage gebracht. Das paßte einigen der jungen Leute auf den Stehplätzen nicht, sie fanden damit das Heiligtum der Oper geschändet. Der Großteil des Publikums aber war meiner Meinung, und auch in der Kritik wurde dies bestätigt. FURCHE: Hat die Oper heute genügend „Inszenierungsfähigkeit“, genug „Magazin“? RENNERT: Das ist ein Appell an den Konservativismus. Das Publikum spaltet sich in einen Teil, der den Avantgardismus predigt, und einen anderen, der das Althergebrachte will. Wir stehen nun zwischen den beiden Fronten und haben uns danach auszurichten. Es gut, Opern wie „Figaro“, „Zauberflöte“ mit unseren heutigen Mitteln zu inszenieren und nicht im Stil wie vor 50 Jahren. Vor allem wird es aber auch darauf ankommen, daß man eben die mtsprechenden Räume für ein modernes Operntheater schafft. FURCHE: Halten Sie die Guckkastenbühne für veraltet? RENNERT: Die Oper der Zukunft, wenn es eine gibt, wird sicher nicht in der bisherigen Form geschrieben werden. Wir werden dafür dann andere Räume brauchen.

FURCHE: Herbert v. Karajan hat in einem Interview mit der österreichischen Monatszeitschrift „analyse“ erklärt, in Zukunft würden die normalen Opernhäuser wenig Chancen haben. Fernsehapparat und Fernsehen werden mit perfekter Leistung an die Stelle unseres Operntheaters treten.

RENNERT: Wir können alle nicht in die Zukunft sehen. Ich bin aber im Grunde der Meinung, daß die Lebendigkeit eines Theatererlebnisses nie durch eine Konserve wird ersetzt werden können. Ich glaube, daß das Publikum, das lebendiges Theater oder eine Opernaufführung sehen will, auch in Zukunft dies vorziehen wird. Ich habe noch nicht erlebt, daß noch so gute Fernsehaufzeich-nungen oder Fernsehwiedergaben das Original erreicht hätten. FURCHE: Kann man Opern life übertragen und trotzdem für das Fernsehpublikum eine interessante Aufführung zustande bringen?

RENNERT: Aufzeichnungen einer Opernaufführung, die acht bis zehn Tage in Anspruch nehmen, wofür das Theater zur Verfügung gestellt wird, haben bisher zu den besten Ergebnissen geführt. Life-Aufzeichnungen leiden dabei noch zu sehr unter Schwierigkeiten. Die Aufzeichnung einer Oper durch ein gut eingespieltes Fernsehteam in der genannten acht-bis zehntägigen Frist hat bisher zu guten Ergebnissen geführt. FURCHE: Ein größeres Problem als das „wie sehen“ scheint bei der heutigen Operninterpretation die Frage zu sein, wie hört das Publikum heute, Musik. Der Mensch des 20. Jahrhunderts ist ja einer mehrfacheren Phonbelastung ausgesetzt als der Mensch vor 40 oder 50 Jahren. Nimmt man auf diese Tatsache, auf die allgemein hastigere Lebensweise, die ja auch den Rhythmus der Musik beeinflußt, bei den heutigen Aufführungen Rücksicht? Glauben Sie, daß heute bereits diesem Tempo angepaßt musiziert wird oder stellen die Opernhäuser eine Art Erholungszentrum für Menschen dar, die aus dem lauten, hastigen Alltag für wenige Stunden die Ruhe vergangener Zeiten suchen?

RENNERT: Das ist die Frage des kulinarischen Elements in der Oper, und das werden wir nie ganz ausschließen können. Wir können sicher sagen, daß das Erlebnismoment in der Oper eine konstante Größe ist, ohne die die Oper nicht existieren kann. Daß die Phonstärken des normalen Lebens hier Auswirkungen haben, das sind Probleme, deren Bedeutung uns noch die Zukunft zeigen wird. Daß diese Phonstärke auch die Erlebniskraft beeinträchtigen kann, glaube ich auch. FURCHE: Müßte man heute nicht einfach vom Tempo her schneller musizieren? Theoretiker sagen ja, daß schon rein zeitlich ein großer Unterschied zwischen Karajan-und Furtwängler-Interpretatio-nen ein und desselben Werkes existieren?

RENNERT: Ich glaube, daß das Tempo in der Musik nicht so sehr zeitgebunden ist, sondern daß es einfach die Kapazität, das Temperament jedes einzelnen Interpreten bestimmt. Ich glaube, daß ein Knappertsbusch- und ein Furtwängler-Tempo, das langsamer war als das Tempo mancher heutiger Interpreten einfach nur von der Person des jeweiligen Musikers bestimmt wird. Aber sicher gibt es immer weniger Interpreten, die die Möglichkeit und die innere Stärke haben, gegen den Geist der Zeit zu musizieren. Die Anzahl solcher Interpreten ist im Schwinden begriffen.

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