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Albert Schweitzers Bach-Bild

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Für sie alle, die mit der Demut der Namenlosen im verborgenen dienen, ist Albert Schweitzer schon längst zum weithin sichtbaren Symbol der opferbereiten Entscheidung zur individuellen Liebestat am Bruder Mensch geworden. Uns Europäern gilt er als eine der reinsten Verkörperungen des abendländischen Geistes; Afrika, wo er lebt und wirkt, zählt ihn zu den Seinen; Amerika wird in zunehmendem Maße von seinem auf praktische Verwirklichung ausgehenden Denken beeindruckt; und die übrige Weit kennt ihn durch die zahlreichen Ubersetzungen seiner Schriften. Die kritisch würdigende Biographie müßte den Menschen und den Menschenfreund, den Kulturphilosophen, den protestantischen Theologen und den Religionsphilosophen, den Musiker und den Schriftsteller umfassen. Die folgenden Zeilen versuchen, die bedeutendste Leistung des Musikschriftstellers, die Errichtung eines Bach-Bildes, aufzuzeigen, das auch heute noch, nach mehr als vier Jahrzehnten, als im wesentlichen gültig angesehen werden muß.

Alle guten Geister des Abendlandes standen an der Wiege des nunmehr Fünfundsiebzigjährigen; wie hätte da der Geist der abendländischen Musik fehlen dürfen? Neben seiner erfolgreichen Betätigung auf den verschiedensten wissenschaftlichen Gebieten zunächst nur praktischer Musiker und bald einer der anerkanntesten Organisten unserer Zeit, entwarf Schweitzer in seiner Bach-Biographie (französische Fassung 1905, erweiterte deutsche Fassung 1908, letzte Ausgabe 1947) aus gründlichster Kenntnis des musikalischen Werkes und des einschlägigen Schrifttums ein literarisches Bild des künstlerischen Genies Johann Sebastian Bach, das im Gegensatz zur Mehrzahl dor popularisierenden Darstellungen nicht nur allen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, sondern auch in einer so einfachen und klaren Sprache abgefaßt ist, daß der Berufsmusiker, der dilettierende Hausmusiker und der musikinteressierte Laie daraus den größten Gewinn zu ziehen vermögen. Obwohl ein Sohn des 19. Jahrhunderts, läßt. Schweitzer die Historie nur insofern gelten, als sie dem Leben dient. Da ihm Bach unter die Zweinaturenlehre fällt („sein künstlerisches Erleben und Schaffen spielt sich neben dem normalen und fast banalen Verlauf seiner bürgerlichen Existenz ab, und zwar so, daß es sich neben dieser gar nicht hervortut“), entwickelt er ohne Verniedlichung und Idealisierung den menschlichen Charakter Bachs, stellt jedoch in den Mittelpunkt seines Buches eine bis in alle Einzelheiten durchforschte Ästhetik von Bachs musikalischem Werk, wobei er niemals von ästhetischen Theorien, sondern stets vom konkreten Kunstwerk ausgeht.

Für die in unseren Tagen so lebhaft geführte Diskussion über die sogenannte „reine“ Kunst (einem Ideal, dem nicht nur viele moderne Musiker, sondern auch viele moderne Maler, aber auch Bildhauer und Architekten nachstreben) wäre es einmal aufschlußreich, Schweitzers allgemeine Ästhetik darzulegen. Ohne einer primitiv-naturalistischen Programm-Musik das Wort zu reden, betont Schweitzer den komplexen (allgemein poetischen) Charakter des künstlerischen Gedankens bis zu dem Augenblick, wo er durch die dem Künstler geläufigste Sprache in Erscheinung tritt. Da somit das Schaffen jedes Künstlers auf dem Zusammenwirken aller Künste beruht, gibt es auch unter den Musikern Dichter, wie Beethoven und Wagner, und Maler, wie Schubert und Berlioz, vor allem aber Bach, den konsequentesten Vertreter der malerischen Musik. Bachs überpersönliches Werk, an dem Jahrhunderte und Generationen gearbeitet hatten, entwickelte sich im Geist und in der Formensprache seiner Zeit unwahrscheinlich rasch zu einzigartiger Vollkommenheit. Seit seinem 30. Lebensjahr hatte sich Bachs poetische Auffassung der Musik nicht mehr gewandelt, der malerische Charakter seiner Tonsprache hingegen verstärkt.

Trotz der ursprünglichen Charakteristik seiner Intervalle ist seine Musik nicht melodisch, sondern deklamatorisch, Bachs Erfindung daher motivisch und thematisch. Bach wußte durch Betonung und Dehnung deutsche wie lateinische Texte vollendet zu deklamieren, wobei er stets auf die innere Form des Satzes zurückging und Reime nicht berücksichtigte. Diese Feststellung Schweitzers läßt einen Vergleich der Bachschen Musik mit der deutschen Odendichtung zu, die sich ebenfalls durch äußerste Freiheit in der natürlichen Deklamation bei äußerster Begrenzung durch den metrischen Raster auszeichnet. Bachs Musik riß auch die schlechtesten Texte an sich und gab ihnen, vertieft und geformt, in Tönen heue Gestalt. Da Bach niemals vom einzelnen Wort, sondern stets vom charakteristischen Gefühlsinhalt der ganzen Dichtung ausging, unterliegen seine Motive keinen wesentlichen Veränderungen. Ohne die mathematische und architektonische Schaffensweise Bachs zu verwischen, wendet sich Schweitzer gegen die manchmal geäußerte Ansicht, diese Musik sei gefühlsarm. Indem Bach nicht die Aufeinanderfolge der Ereignisse, sondern wie der Maler den jeweils prägnantesten Augenblick herausgreift, schildert dieser objektivste unter den Musikern am reinsten die Idee des Seins. In dem Bestreben, die Tonmalerei, die für Bach Selbstzweck ist, ins Realistische zu steigern, treibt dieser Sohn der Spätbarocke, der zugleich ein später Abkömmling der Gotik ist, den Ausdruck der Gefühle ins Hochpathetische; die verhaltene Leidenschaft seines innersten Wesens findet ihren Ausdruck in der drängenden Spannung dieses Pathos.

Bach rang schwer um die Vollkommenheit seiner Motivik, und seine kombinatorische Erfindungsgabe, so hoch entwickelt und unbegrenzt sie auch war, bedurfte meist der Ankurbelung durch fremde Musik. Wie Bach stets nur über ein einziges Thema zu improvisieren pflegte, so stellt auch jedes seiner Werke die vollkommenste Selbstentfaltung einer einzigen Idee, das Urgeheimnis des höheren Geschehens dar. Fast alle charakteristischen Ausdrücke, die in den Kantaten und Passionen wiederkehren, gehen auf etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Elementarthemen zurück. Wenn Schweitzer in Bachs Kantaten Schritt-, Tumult-, Schmerz- und Freudenmotive, Motive der Traurigkeit, der Mattigkeit und des Erschreckens, rein bildliche Themen, verschiedene charakteristische Rhythmen wie Seligkeitsrhythmen und endlich die Verbindung dieser Motive untersucht, so hält er dies für keine ästhetische Spielerei, sondern unerläßlich für den praktischen Musiker, um aus den Werken, die sich mit Texten verbinden oder auf solche zurückgehen, auch die Instrumentalwerke verstehen und werkgetreu interpretieren zu können. Es sollte, besonders im heurigen Bach-Jahr, kein Künstler das Konzertpodium betreten, ehe er sich nicht mit Schweitzers Ausführungen über die Wiedergabe von Bachs Werken auseinandergesetzt hat.

Je mehr man sich mit Bachs Biographie beschäftigt, um so rätselhafter wird einem der Künstler. Fleiß, ernste Kunstauffassung und strenge Selbstkritik lassen sich auf natürliche Weise erklären, nicht aber das Genie und die nicht mehr zu übertreffende Vollkommenheit der Leistung. Unsere jungen Künstler, die ihre Werke nicht früh genug und gewissermaßen tintennaß an die Öffentlichkeit zu bringen trachten und nach Ruhm und Tantiemen Ausschau halten, seien auf Bachs unerhörte Gelassenheit gegenüber seinem kompositorischen Werk verwiesen; eine Gelassenheit, die allerdings manchmal auch in eine nicht mehr verständliche Gleichgültigkeit umschlagen konnte. Einsam und ohne wirkliche Freunde, selbst den Nächsten gegenüber scheu verschlossen, berichtet uns kein einziges überliefertes Wort vom innersten Wesen dieses Künstlers. Die einzige Stelle, die den Künstler mit dem Menschen verband, ist Bachs Frömmigkeit. Jeden Notenkopf seiner religiösen wie seiner profanen Werke schrieb er zur höheren Ehre Gottes. Er wußte um das Leid und hatte des Lebens Bitterkeit gekostet. Im Innersten seines Wesens war „Bach eine Erscheinung in der Geschichte der deutschen Mystik. Der starke Mann, der durch seine Familie und durch sein Schaffen mitten im Leben und in der Welt stand, auf dessen Lippen etwas wie behäbige Freude am Dasein liegt, war innerlich der Welt abgestorben. Sein ganzes Denken war von einem wunderbaren, heiteren Todessehnen verklärt. Immer wieder, so oft es der Text nur einigermaßen gestattet, kommt er in seiner Musik auf dieses Sehnen zu reden, und nie ist die Sprache seiner Töne so ergreifend, wie gerade in den Kantaten, in denen er die Erlösung vom Leibe dieses Todes predigt... Einmal ist's ein schmerzvoll müdes Sehnen, das sich durch die Töne hinzieht,- dann wieder ein heiter lächelndes, das in einer Wiegenliedmusik, wie nur er sie schreiben konnte, einherträumt; dann wieder ein leidenschaftlich ekstatisches, das den Tod jubelnd herbeiruft und sich ihm verzückt entgegenwirft... Das Dasein, das, von außen betrachtet, als Kampf und Streit und Bitterkeit erscheint, war in Wahrheit Friede und Heiterkeit“.

Und somit muß jeder Versuch, das künstlerische Wesen Bachs mit den rationalen Mitteln der Wissenschaft zu ergründen, im Irrationalismus enden. Dort, wo die Wissenschaft naturgemäß versagen muß, hat das Erlebnis einzusetzen, um die Breite und die Tiefe dieses gigantischen Lebenswerkes ahnend auszufühlen. Es wird ein unerforschliches Geheimnis bleiben, welche Kräfte es einem Beethoven ermöglichten, sein tragisches persönliches Schicksal, und welchen es wohl Bach verdankte, das unerheblich Menschliche des irdischen Daseins im geläuterten Frieden des Werkes überwunden zu haben. Albert Schweitzers tiefgründiges Bach-Bild ruft uns heute mehr denn je zum Erlebnis auf; denn gerade Bach kann „dazu helfen, daß unsere Zeit zur geistigen Sammlung und zur Innerlichkeit komme, die ihr so not tut“.

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