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Schuld und Tragik des Liberalismus

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Der Einfluß der liberalen Bewegung auf die Stellung des Deutschtums in der habsburgischen Monarchie

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Der Einfluß der liberalen Bewegung auf die Stellung des Deutschtums in der habsburgischen Monarchie

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Die liberale Bewegung hat in der habsburgischen Monarchie ihre Vorgeschichte im aufgeklärten Absolutismus der spättheresia- nisch-josephinischen Aera, in der der Aufstieg des dritten Standes vorbereitet wurde. Die Beamtenschaft, die in der reformfreudigen Aufklärungszeit vom absoluten Fürsten planmäßig als wichtigster innenpolitischer Hebel seiner Macht und seiner gegen die überkommene feudale Ordnung gerichteten Reformbestrebungen herangezüchtet wurde, trug den Reformgeist durch das Restaurationszeitalter weiter und wirkte stark auf die Entwicklung der liberalen Strömung ein, die, von Westeuropa kommend, im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich langsam, unter zahlreichen Rückschlägen, aber mit der unerbittlichen Gewißheit des siegreichen Zeitgeistes über Mittel- und Osteuropa unterirdisch ausbreitete und in den sechziger Jahren zum vollen, weltweiten Durchbruch gelangte.

War die josephinische Bürokratie ein für den Aufstieg der bürgerlichen Klasse maßgeblicher Faktor, um so mehr als sie selbst teilweise das bürgerliche Element verkörperte, und zwar das staatsbewußte und kaisertreue deutsche Bürgertum, so blieb die Dynastie die ausschlaggebende und schicksalsbestimmte Macht für die Entwicklung der liberalen Bewegung. Dadurch aber, daß die Krone seit und infolge der Französischen Revolution einer starr restaurativen Haltung huldigte und eine kluge Fortsetzung der josephinischen Reformen ablehnte,»wurden die bürgerlichen Schichten in die Opposition gegenüber dem Staat gedrängt.

Diese bürgerlichen Schichten, nämlich die freien akademischen Berufe der Rechtsanwälte, Aerzte, Journalisten, der Künstler und Literaten, ferner die kaufmännische und industrielle Schicht, kurzum Bildung und Besitz, gewöhnten sich infolge der Restaurationspolitik daran, den Staat als einen Gegner zu betrachten, mit dem sie sich in einem ständigen Zivilprozeß befanden. Diese privatrechtliche Betrachtungsweise des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat ist charakteristisch für die gesamte bürgerliche Aera, nicht nur in der habsburgischen Monarchie, sondern auch im kleindeutschen Reich und darüber hinaus in der westlichen Welt. Sie hat wesentlich zur Untergrabung der Autorität und Zerstörung der staatlichen Ordnung beigetragen.

Träger dieser staatsfeindlichen Gesinnung waren die politisch aktiven Berufsgruppen der Rechtsanwälte, juristischen Professoren, der Aerzte und Journalisten. Vor allem haben die beiden erstgenannten die deutschliberale Verfassungspartei auf jene verhängnisvolle politische Bahn geführt, auf der das deutsche Bürgertum ins Unglück marschierte und den Staat mit sich in den Abgrund riß. Die kaufmännisch-industrielle Schicht (Bourgeoisie) verhielt sich politisch im wesentlichen gleichgültig und ging im Erwerb von Reichtum und dessen Genuß auf. Lediglich die josephinische Beamtenschaft und eine Minderheit staatsbewußter Angehöriger der bürgerlichen Klasse diente dem Staat und verteidigte ihn g»gen den Ansturm seiner Feinde, die aus dem Schoß der liberalen Zeitströmung hervorgingen.

Für das übernationale Habsburgerreich barg der Aufstieg des dritten Standes, der zunächst ein soziales und staatsrechtliches Problem war, eine tödliche Gefahr in sich: das Erwachen der beherrschten Schichten als Selbstbewußtwerden der Nationen. Dieses Selbstbewußtwerden bedeutete von vornherein Gegnerschaft gegen den bestehenden Staat, vor allem bei den historischen Nationen, die in ihm nicht eine übernationale Ordnung, sondern die Fremdherrschaft der Deutschen sahen und nur ein Ziel kannten, nämlich diese Fremdherrschaft abzuschütteln. Daß die liberale Bewegung als soziales Problem gleichzeitig ein nationales war, daß sie nicht nur die soziale Ordnung, sondern ebenso die bestehenden nationalen Verhältnisse gefährdete, dafür bot das habsburgische Vielvölkerreich den besten Beweis.

Der Liberalismus hat die überkommene abendländische Gemeinschaftsordnung aufgelöst, um die Autonomie der Einzelpersönlichkeit zu verwirklichen. Dieses Streben entwickelte sich in zwei Richtungen: zur Entfaltung des personalen und des kollektiven Individualismus. Der kollektive Individualismus der Nationen erwuchs aus der Anknüpfung an die schlummernde nationale Tradition, zu deren Erweckung die europäische Aufklärung den entscheidenden Anstoß gab. Das Erwachen und die Entwicklung des Nationsbewußtseins vollzog sich in verschiedenen Etappen: Es wurde geweckt auf literarischem Wege durch Sprachwissenschaft und Geschichte, pädagogisch gepflegt im Ringen um die kulturelle Autonomie (Gleichberechtigung in Schule und Sprache), gefördert und geschärft im Kampf gegen die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorrechte einer fremdvölkischen Oberschicht und zuletzt zur verzehrenden politischen Flamme angefacht mit dem Endziel der Zerstörung der übernationalen Ordnung und der Errichtung unabhängiger Nationalstaaten. Die Entartung des Nationalbewußtseins zum Nationalismus durch den Aufstieg der unteren Schichten der Gesellschaft führte dann zu jenem krankhaften nationalen Imperialismus, der Europa und die von den Europäern geschaffene Weltordnung zerstörte.

In der habsburgischen Monarchie, als der Hüterin der übernationalen christlich-universalen Ordnung, war das abendländischeSchicksal verkörpert. Die große Nationalbewegung, die der Liberalismus auslöste, drängte die übernationale Ordnungsmacht an den südöstlichen Rand Europas, zersetzte und zerstörte sie zuletzt. Der volkliche Träger der abendländischen übernationalen Gemeinschaftsidee war das Deutschtum, das im hochmittelalterlichen Reich und in der neuzeitlichen Geschichte- im habsburgischen Reich der übernationalen europäischen Idee zweimal politische Wirklichkeit verliehen hatte. Die europäische Entwicklung von der Einheit zur Vielheit, von der Gemeinschaft zur Besonderung, bedeutete für das deutsche Volk schrittweise einen Rückgang seiner Bedeutung und seines Einflusses, eine allmähliche Verringerung seiner Weltstellung und Weltgeltung, vor allem im gesamten osteuropäischen Raum. Den letzten planmäßigen Vorstoß — in den südosteuropäischen Raum — zum Wiederaufbau der durch die Türkenkriege verwüsteten Gebiete Ungarns unternahm das Habsburgerreich im There- sianischen Zeitalter durch Ansiedlung deutscher Bevölkerung. Von der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert an wurde die deutsche Ostbewegung endgültig stationär, dem übernationalen Habsburgerreich durch die Zeitbewegung als führender Macht der Restauration die Rolle der Reaktion aufgezwungen. Der Liberalismus breitete sich im Restaurationszeitalter weiter aus, besonders wirtschaftlich und kulturell; die Revolution von 1848 49 aber enthüllte klar, daß die durch den Liberalismus entfesselte Nationalbewegung dem Vielvölkerreich die Lebensfrage stellte. Die Krise der übernationalen Ordnungsmacht war durch die 48er-Revolution politisch vordergründig geworden.

Wie stellte sich nun zu dieser Lebensfrage das deutsch-bürgerliche Element? Es steht fest, daß bis Königgrätz die übernationale josephinische Gesamtstaatsidee vorherrschend blieb. Ihren deutlichsten Ausdruck fand diese Haltung in der Märzverfassung von 1849 und in abgeschwächter Form in der Februarverfassung von 1861. Beide Verfassungen waren oktroyiert und fanden die Zustimmung der überwältigenden Mehrheit des deutschen Bürgertums, wie die Aprilcharta des Jahres 1848. Während die beiden Verfassungen der Revolutionsjahre keine praktische Verwirklichung fanden, begann mit der Februarverfassung im Jahre 1861 das konstitutionelle Leben Oesterreichs. Die erste konstitutionelleRegierung unter Leitung Schmerlings machte den vergeblichen Versuch, auf dem Wege eines konstitutionellen Zentralismus mit ständischem und föderalistischem Einschlag in der Verfassung den Gesamtstaat zu erhalten. Schmerlings Versuch scheiterte innenpolitisch an der magyarischen, außenpolitisch an der deutschen Frage. Die Verfassung wurde sistiert, die Krone kehrte zur absolutistischen Regierungsweise zurück.

Von 1861 an datiert auch das Parteienwesen mit dem Beginn einer parlamentarischen Regierungsweise. Das deutsche Bürgertum fand sich in der sogenannten Verfassungspartei zu einer lockeren Verbindung zusammen; ihr standen die klerikalen, feudalen und nationalen Gruppen gegenüber. Bei Königgrätz unterlag der übernationale Ordnungsgedanke Mitteleuropas, der schon bei Magenta eine entscheidende Niederlage erlitten hatte, endgültig dem nationalen Prinzip.

Der Liberalismus als Nationalbewegung erwies sich als der größte Feind des übernationalen österreichischen Gesamtstaates. Die großen Nationalprobleme wurden durch die Zeitbewegung auf Kosten des übernationalen Reiches gelöst. Im Jahre 1859 siegte die italienische Nationalbewegung, im Jahre 1866 die kleindeutsche und die magyarische. Jeder innenpolitische Sieg der Deutschliberalen, die Verfassung von 1861 wie die von 1867, hatten also zur Voraussetzung eine außenpolitische und militärische Niederlage des josephinischen Gesamtstaates. Von nationaler deutscher Seite aus gesehen, bedeutete das siegreiche Vordringen des Liberalismus eine ständige Einbuße an deutschem Einfluß in der Welt (besonders in Mittel- und Osteuropa) und einen Verlust deutscher Substanz (Trans- leithanien!). Die Tragik dieses Zwiespalts kam den Deutschliberalen in ihrer großen Masse nicht klar zum Bewußtsein, wenn auch die Zahl derer ständig anwuchs, die in tieferer Einsicht die Endfolgen dieser Entwicklung voraussahen.

Zunächst aber war die Verfassung von 1867 mit Individualrechten und Gewaltenteilung der große Trostpreis, den man nicht als solchen empfand, sondern als Sieg über den Absolutismus. Und die verhängnisvolle Unterschätzung des nationalen Problems ging so weit, daß man in den Reihen der Verfassungspartei glaubte, zusammen mit den liberalen Magyaren ein festes Bollwerk gegen jegliche absolutistische Reaktion errichten zu können.

Die Politik der Verfassungspartei war ab 1867 von der individualrechtlichen Ideologie bestimmt; ihre Schwerpunkte in der hochliberalen Aera (1867 bis 1879) waren der Kampf um die Abschaffung des Konkordats, die Sicherung der Verfassung und die wirtschaftliche Prosperität der Gründerzeit. Inzwischen schritt die nationale Zersetzung erfolgreich weiter; nach den Italienern und Magyaren traten nun die slawischen Nationalitäten mehr und mehr in den Vordergrund. Das Zentrum des slawischen Nationalismus war Böhmen; die Tschechen als historische Nation bildeten die Sturmtruppe der separatistischen Bestrebungen der Slawen bis zur Jahrhundertwende. Dann rückten, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, die Südslawen in die vorderste Front der nationalistischen Reichszerstörer. Das Deutschtum wurde auch in Zisleithanien in die Verteidigung gedrängt.

Auf den Schlachtfeldern von Königgrätz war mit dem josephinischen Gesamtstaat auch die großdeutsche Idee begraben worden. Im deutschen Bürgertum entstand in den sechziger Jahren auch eine kleindeutsche Richtung, die um den Preis der Zerstörung des habsburgischen Reiches den Anschluß der deutschen Teile Oesterreichs an das kleindeutsche Reich erstrebte. Der Einfluß dieser Gruppe blieb bis zum Ende der Donaumonarchie innerhalb des deutschen Bürgertums von untergeordneter Bedeutung; dieser radikale Nationalismus feierte seinen vollen Triumph erst zwei Generationen später, als die kleinbürgerlichen Schichten und die breiten Massen des vierten Standes ihn auf ihre Fahnen schrieben.

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