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Abschied vom Abendland?

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Mud scheint die Februarsonne über das Schlachtfeld vom Weißen Berg/ Tödlich ist die Stille, die über der Landschaft lagert. Ein paar Krähen hocken auf den kahlen Bäumen, welche die alte Heerstraße säumen, auf der noch immer alle Armeen zogen, die im Schicksal Böhmens eine Rolle spielten. Drüben, aus dem Dunkel des Föhrenwaldes blinken die hellen Mauern des Schlosses „Stern", das der Statthalter Erzherzog Ferdinand von Tirol für seinq Gattin, die schöne Weiserin, erbauen ließ. Abseits der Straße, mitten auf dem ehemaligen Schlachtfeld steht eine kleine Barockkirche. Eine Wallfahrtskirche. Durch Jahrhunderte, sogar bis ins ungläubige neunzehnte Jahrhundert hinein, zogen Pilger zu dem kleinen Muttergottesbild, das über dem Altar hängt. Und das auf dem Feldaltar stand, auf dem der spanische Karmelit Dominikus a Jesu Maria vor der denkwürdigen Schlacht die Sonntagsmesse las. Denn dieser 8. November 1620 war ein Sonntag, und symbolhaft erschien nicht nur den Teilnehmern dieser Messe, sondern auch den späteren Jahrhunderten, daß auf diesen 8. November 1620 das Evangelium vom 22. Sonntag nach Pfingsten fiel. Jenes Evangelium, das mit den Worten endigt „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist"! Es erschien auch den Erbauern der Kirche so bedeutungsvoll, daß sie diesen Spruch einmeißeln ließen zum ewigen Gedenken. „Reddite ergo"! steht über dem runden Torbogen, „Quae sunt Caesaris Caesari! Et quae sunt Dei Deo!“

Müd gleiten ein paar Strahlen der Sonne über diese Buchstabe . „Reddite ergo!“ Gilt dieser Spruch nur für diese Schlacht oder steht er nicht in Wirklichkeit über jenem Bogen, der sich über ein Jahrtausend böhmischer Geschichte wölbt? Reddite ergo! Gebet zurück! Vor tausend Jahren hatte sich Böhmen für das Abendland entschieden. Nach langem Zögern. Und hatte sich damit entschieden nach jenen Gesetzen zu leben, die für das Abendland galten. Und alle Kämpfe, an denen das Leben Böhmens innerhalb dieses Jahrtausends so reich war, gingen im Grund genommen um die Erfüllung dieser Grundgesetze. Das Abendland forderte in die Schranken, wenn seine Synthese verletzt wurde. Es ließ kein Christentum zu, das keinen Humanismus kannte, wie es die Hussiten praktizierten, es ließ keinen Humanismus zu, der kein sakrales Christentum kannte, wie es die Böhmischen Brüder predigten. Es ließ nicht zu, daß Böhmen aus der politischen Einheit herausfiel, wie es jene Rebellen wollten, die hier am Weißen Berg geschlagen wurden. Reddite ergo! Reddite ergo!

In diesen tausend Jahren hatte Böhmen wiederholt versucht, eine der beiden Komponenten zu eliminieren, die das Grundgesetz des Abendlandes bildeten. Nicht aber das Abendland zu eliminieren. Nun aber scheint Böhmen das Abendland zu verlassen. Ganz und endgültig?

Historische Situationen wie jene, die sich in den letzten Tagen und Stunden in Böhmen ergaben, sind nicht von heute auf morgen entstanden. Ihre Wurzeln reichen weit zurück, Jahre und Jahrzehnte.

Gewiß, zunächst scheinen die jt.zigen Ereignisse in Böhmen nur eine Wiederholung in umgekehrter Richtung der Ereignisse von 1939 zu sein. Damals mußte das Land kapitulieren, weil es allein und schwach war. Weil all; Sicherungen, die gegeben worden waren, versagten. Dr. Hacha, der damals als Präsident die Kapitulation unterschreiben mußte, opferte den Staat, um ‘wenigstens das Volk zu retten. Ein Vorgehen, das Dr. Benesch nicht genug tadeln konnte, denn, wie er schrieb, „gibt es Prinzipien der politischen Moral, die nie, unter keinen Umständen, unter keinem Druck, mögen Vorteile wejeher Art immer winken, geopfert werden dürfen“. Und der gleiche Dr. Benesch mußte jetzt seine eigenen Worte praktisch dadurch widerrufen, daß er in einer ähnlichen Situation wie Dr. Hacha die Kapitulation nicht vermied. Nicht vermeiden konnte, weil das Land wieder allein und schwach war. Und warum war es allein, damals 1939 und heute? Weil es dreißig Jahre zuyor die einzige politische Ordnung verlassen hatte, in der es stark und nicht allein war. Weil es jene Union der kleinen Völker verlassen hatte, die man die Habsburgermonarchie genannt hatte. Und warum verließ es sie? Hier liegen die Wurzeln der Tragödien des letzten Jahrzehnts.

Bald werden es hundert Jahre sein, daß František Palacky seine berühmten Worte an die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche schrieb: „Wenn Österreich nicht wäre, im Interesse Europas und der Humanität müßte es geschaffen werden!“ Palacky fürchtete, bei einem Auseinanderfallen des Donaureiches werde es für Böhmen nur zwei Möglichkeiten geben: entweder es fiel an Deutschland oder es fiel an Rußland. Vereinigung mit Deutschland konnte nur restlose Ger- manisierung bedeuten — noch 1895 schrieb Masaryk erschreckt an seine Landsleute, sie sollten sich ja nicht den Zusammenbruch Österreichs wünschen, dieser würde auto- . mansch eine Okkupation durch Deutschland nach sich ziehen, deren Folgen unabsehbar wären — Vereinigung mit Rußland bedeutete für Palackf Unterjochung unter eine Tyrannis. In beiden Fällen für das tschechische Volk ein Aufgesogenwerden. Nur die Union der elf Volker des alten Reiches erschien damals Palacky eine Garantie, daß sein Volk nicht zerrieben werde, nur die Union dieser elf Völker erschien ein Schutz gegen nationale Unterdrückung, nur die Union dieser elf kleinen Völker machte sie so stark, daß sie eine Großmacht bildeten und eine Garantie gegen alle Aggression. Er, Palacky, der „Vater der Nation“, sah die Tragödie kommen, die sein Volk treffen mußte, wenn diese Union eines Tages aufhörte zu bestehen. Und dennoch hat auch er die Axt an sie gelegt. 1868 unternahm er seine berühmte „Moskauer Wallfahrt“. Diese Wallfahrt war zuerst als eine Art Demonstration gedacht, als ein Ausspielen der panslawistischen Karte gegenüber der pangermanistischen Karte der kurzsichtigsten Politiker, die es im alten Österreich gegeben hat. Aber es war etwas Ansteckendes an dieser Wallfahrt. Sie führte schließlich ein Volk mit auf diesen Pilgerzug. Ist sie heute endgültig ans Ziel gekommen? Mußte sie zu diesem Ziel kommen? Wer trägt die Schuld und wer ist in diesem düsteren historischen Prozeß ohne Schuld? Als Masaryk 2u Beginn des ersten Weltkrieges den gewesenen Ministerpräsi denten Koerber auf suchte und dieser auf die Fragt, welche Politik Österreich wohl nach dem Kriege einschlagen werde, achselzuckend die Antwort gab, es werde zentralisieren und germanisieren, entschloß sich Masaryk zur Emigration. Und auch Benesch wurde Emigrant. Das Unglück war in seinem Lauf.

Vor tausend Jahren, als das tschechische Volk, am Beginn seiner geschichtlichen Existenz stehend, sich dem Abendland anschloß, verlangte das Abendland die Annahme seiner Gesetze und seiner Lebensformen. Und alle Versuche, diese Gesetze zu umgehen, mußten blutig bezahlt werden. Jetzt, da das tschechische Volk versuchte, sich nur teilweise dem Osten anzuschließen, wird es ganz in dessen Totalität gezwungen. Bedeutet dies ein endgültiges Abschiednehmen vom Abendland? Welcher Spruch wird von nun an gelten, an Stelle dieses Spruches da oben am Kirchenportal? „Reddite ergo!" Aber es gibt nur einen

Gott, er ist der Herr des Abendlandes und des Ostens und es gibt kein Abschiednehmen von seinen Gesetzen. „Reddite ergo! Quae sunt Dei Deo!“ Aber es gibt auch kein Abschiednehmen von jenen Gesetzen des Abendlandes, die ewiges Gut aller Menschen sind. Böhmen ist durchtränkt vom Abendland. Das tschechische Volk wird es nie mehr ablegen können. Nur mitnehmen kann es und hinübertragen, um damit andere zu erfassen. Wird dies vielleicht jetzt seine Aufgabe sein, der Sinn kommender Geschichte? ...

Ein Auto fährt drüben auf der Straße, die Krähen fliegen kreischend auf. Dann ist wieder Stille. Irgendwo nur heult in Hund, der in der Kälte friert. Sonst Stille, Stille. Die Zeit scheint zu stehen wie die Uhr am Kirchturm. Die Sonne verschwindet langsam. Nur ein paar Strahlen huschen noch über die gemeißelten Worte: „Reddite ergo!"

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