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Das V olksbüdbereiwesen in Österreich

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In den Wechselbeziehungen zwischen Schrifttum und Kultur läßt sich deutlich eine Entwicklung feststellen: die Erfindung des Buchdruckes vor rund einem halben Jahrtausend bedeutet eine tiefe kulturgeschichtliche Zensur, die Ausweitung des Wirkungsbereiches des Buches durch die Errichtung von Volksbüchereien im 19. Jahrhundert und damit die Einbeziehung breiter Schichten in den Bannkreis des Buches stellt eine weitere Phase in dieser Entwicklung dar.

Man pflegt die entscheidenden Anregungen dem frühentwickelten Büchereiwesen in den angelsächsischen Ländern zuzuschreiben. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, daß in Österreich wie in der gesamten Volksbildung überhaupt auch auf dem Gebiete des Büchereiwesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Banne der Romantik durchaus ernstzunehmende Bestrebungen festzustellen sind. Es wurden „Lesekasinos”, „Lesekabtnette” an vielen Orten ins Leben gerufen, die ebenso wie die Bibliotheken, die etwa von Geschichts- und Musealvereinen geschaffen wurden, zweifellos als Vorläufer der Volksbüchereien anzusehen sind.

Das politische Geschehen, das im Jahre 1848 gipfelt, macht sich auch auf dem Gebiet des Bildungswesens geltend: die Sozialisten wie auch führende katholische Kreise gründen Bildungsvereine und Büchereien. Eine der ersten ist die Innsbrucker katholische Vereinsbibliothek (1850), 1867 entsteht als eine der ersten Volksbüchereien in Wien die Arbeiterbücherei in Gumpendorf.

Nun tritt in manchen der heutigen Bundesländer gleichzeitig mit dieser politischen und weltanschaulichen Richtung, in manchen später, das liberale Bürgertum auf den Plan und bemüht sich, eine interkonfessionelle Volksbildung zu schaffen. Die geistige Situation dieser Zeit ist ja bekannt: auf der einen Seite eine Reihe bedeutsamer Entdeckungen und Erfindungen, ein überaus rascher Fortschritt besonders der Naturwissenschaften und. in deren Gefolge der Technik, auf der anderen Seite eine amorphe Masse, kulturlos, besitzlos, verelendet. Es ist nun der Königsgedanke der liberalen Volksbildung, zwischen den Kulturgütern, Wissenschaft und Kunst einerseits und dieser Masse andererseits eine Brücke zu schlagen. Alle Menschen sollen „Anteil” an den Kulturgütern erhaltea. Man versucht dies auf die Weise durcfi- zwi jhren, daß man Volkshochschulen und Volksbüchereien gründet, kurz eine materielle Bereitstellung der Kulturgüter anstrebt. Die Wissensvermittlung, die Vermittlung der materialen Bildungsinhalte, steht hiebei im Zentrum. Daß diese Art von Bildungsarbeit bald restlos dem Rationalismus verfallen mußte, liegt auf der Hand.

Eine größere Anzahl von Volksbüchereien entstand damals in ganz Österreich; so im Rahmen des „Gemeinnützigen Vereins” in Wien (1878),

des Niederösterreichischen Volksbildungs- vereins mit dem Sitz in Krems und später des Wiener Volksbildungsvereins (1S87). In Steiermark errichtete besonders der 1889 gegründete, national orientierte Verein „Südmark “Büchereien. Einen bedeutenden Schritt nach vorwärts stellt dann die Gründung des Vereins „Zentralbibibliothek” in Wien dar, den Eduard Reyer 1898 ins Leben rief, nachdem er bereits vorher in Graz eine Volksbücherei geschaffen hatte. Reyer bemüht sich, in seiner Zentrale, wie auch den zahlreichen Filialbüchereien ein zweckdienliches System der Bücherverwaltung und -technik zu entwickeln.

So bestanden nun um die Jahrhundertwende drei Richtungen nebeneinander: eine politische, eine weltanschauliche und eine neutrale. Jede dieser Richtungen verfügte über Bildungseinrichtungen und Büchereien. Die Arbeit all dieser Büchereien war fast ausschließlich extensiv eingestellt.

Es kam nun die Zeit des ersten Weltkrieges. Wie nun große politische Katastrophen und Krisen seit jeher zur Selbstbesinnung der Völker führen, wurden auch damals ernste Zweifel an den Bildungsbestrebungen laut: „Wir wissen zu viel, um weise zu sein!”

Es war vor allem Walter Hoffmann in Leipzig, der erkannte, daß es mit der bloß materiellen Bereitstellung von Bil- dungsgütem nicht getan ist, daß die entscheidende Aufgabe der Volksbücherei vielmehr in der geistigen Vermittlung zwischen Mensch und Buch liegt. Diese muß auf Grund der Kenntnis der Bücher, der Buchkunde einerseits, der Kenntnis der Menschen, die in die Bücherei kommen, der Leserkunde andererseits, vor sich gehen. Dazu ist eine Büchereitechnik notwendig, die diese Vermittlung ermöglicht und fördert.

Damit ist wieder ein entscheidender Schritt getan; Arbeitsgebiet und Methoden der Volksbücherei sind jetzt scharf von der wissenschaftlichen Bibliothek abgegrenzt. Geht es bei letzterer um eine möglichste Vollständigkeit der Bestände für ein Sachgebiet und deren Bereitstellung für die Wissenschaft, während der Leser in den Hintergrund tritt, ist für die Volksbücherei die Auswahl im Bücherbestand auf Grund der buchkundlichen und leserpsychologischen Gegebenheiten und die Vermittlung zwischen Mensch und Buch entscheidend.

Der gesamte technische Apparat der Volksbücherei steht in deren Dienst eben dieser. Damit ist die Volksbücherei nicht mehr eine verwässerte, „popularisierte” wissenschaftliche Bibliothek, sondern hat ihr eigenes Wesen, sie trägt ihre eigenen Züge.

Diese Gedanken Hoffmanns fanden rasche Verbreitung. In Österreich wurde die erste Volksbücherei dieser Art im niederösterreichischen Industrieviertel von der Stadtgemeinde Wiener Neustadt dank der Bemühungen von Friedrich Holzer 1922 eröffnet. Maßgebend sind die Grundsätze hiebei, die Kerschensteiner dahingehend zusammenfaßt, daß „nur jene Bildungsgüter fruchtbar werden können, die der geistigen und seelischen Struktur des Bildungsobjekts adäquat sind”.

Im Rahmen der nach dem ersten Weltkrieg geschaffenen staatlichen Bildungspflege wurden Neugründungen von Büchereien angeregt, bestehende Büchereien mit Rat und Tat unterstützt und subventioniert, Wanderbüchereien in Umlauf gesetzt. Auch manche Gemeinde richtete eine Volksbücherei ein und bestellte hauptamtliche Bibliothekare. So stieg die Zahl der Volksbüchereien in den Jahren vor 1938 auf rund 800, die hauptsächlich von Volksbildungsvereinen, von politischen und weltanschaulichen Organisationen getragen wurden. Von letzteren seien nur einige der bedeutendsten genannt: auf katholischer Seite der Verein Volkslesehalle, der österreichische Büchereiverband und das Borromäus- werk, auf sozialistischer Seite der Verein Wiener Arbeiterbüchereien und auf national- liberaler Seite vor allem der Deutsche Schulverein Südmark. Daneben unterhielten, wie bereits bemerkt, einige Gemeinden, aber auch Pfarren, Industriewerke und Gewerkschaften .Büchereien. 1936 wurden die Büchereien des Vereins Wiener Arbeiterbüchereien von der Gemeinde Wien übernommen und der Allgemeinheit zugänglich gemacht.

Es war gewiß noch lang kein idealer Zustand, aber überall zeigten sich vielversprechende Ansätze zu einer gesunden und guten Entwicklung.

Der Nationalsozialismus erkannte den hohen propagandistischen Wert des Buches. Er bemächtigte sich daher sehr bald der Volksbüchereien, in jedem „Gau” wurde eine „Reichsbüchereistelle” geschaffen, die die Aufgabe hatte, das gesamte Büchereiwesen zu überwachen und zu lenken. Alle Büchereien der Vereine und Organisationen wurden enteignet und den Gemeinden übergeben, Bücher, die der nationalsozialistischen Ideologie nicht entsprachen, wurden ausgeschieden, andererseits wurden nur solche eingestellt, die von den Reichs- büchereistellen für gut befunden wurden. Die Zahl der Büchereien stieg — zumindest in den Statistiken — auf 1499 im Jahre 1944.

Aber der Nationalsozialismus hinterließ auch auf diesem Gebiet ein Trümmerfeld; nicht weniger als 186 Büchereien wurden durch Kriegsereignisse zerstört. Überall haben die Buchbestände schwersten Schaden gelitten. So wurden seinerzeit wertvolle Bücher vom NS-Regime ausgemerzt, durch die notwendig gewordene Säuberung von NS-Literatur büßten die Büchereien erhebliche Teile ihrer Bestände ein; gerade bei den kleineren Büchereien, und hier wieder vor allem in den Grenzgebieten, mußten durchschnittlich nicht weniger als rund 50 Prozent der Bestände ausgeschieden werden! Dazu kommt seit Jahren die Unmöglichkeit, Bücher in entsprechendem Ausmaß nachzuschaffen, ferner die natürliche Abnützung; so ist hier ein Zustand eingetreten, der die Tätigkeit fast aller Büchereien stark hemmt.

E ie Erfüllung, ja schon die Inangriffnahme der eigentlichen Bildungsaufgabe der Bücher ist nun von einer Reihe von Voraussetzungen abhängig. Zunächst müssen lebensfähige Büchereien in genügender Anzahl existieren. In Dänemark etwa, einem land mit vier Millionen Einwohnern, bestehen rund 1200 Volksbüchereien. Eine gute Volksbücherei kann sich aber nicht selbst erhalten. Es müssen daher entsprechende Mittel bereitgestellt werden. Gerade vom Wirtschaftlichen her gesehen, zeigt es sich, daß Bildung des Volkes letzten Endes zum wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand führt. Auch für die Demokratie ist die Bildung der breiten Schichten Voraussetzung. Musterbeispiel für beide Feststellungen sind die nordischen Staaten, ist besonders Dänemark.

Ein zweites: in den Büchereien müssen geeignete Buchbestände vorhanden sein. Daraus ergeben sich nicht zuletzt an die österreichische Verlagsproduktion wichtige Forderungen.

Ach dafür, daß bei allen Büchereien, in Stadt und Land ein zweckdienlicher, einfacher und dabei einwandfreier technischer Apparat besteht, muß Sorge getragen werden. Schließlich muß noch ein wichtiger Punkt berührt werden, nämlich die Ausbildung der Volksbibliotheken.

Es hat verhältnismäßig lange gedauert, bis man erkannte, daß zum Unterricht von Kindern bestimmte Voraussetzungen nötig sind. Manchmal aber scheint es, daß sich auf dem Gebiet der Volksbildung die Erkenntnis, daß auch der Volksbildner und Bibliothekar eine entsprechende Ausbildung braucht, nicht durchsetzen will. Die Begeisterung, mit der viele Büchereileiter seit Jahr und Tag ehrenamtlich wertvollste Arbeit leisten, soll damit nicht berührt werden. Nichtsdestoweniger muß aber mit allem Nachdruck verlangt werden, daß der hauptamtliche Bibliothekar eine entsprechende Ausbildung erhält, denn nur dann besteht die Gewähr für die richtige Auswertung der öffentlichen Mittel.

Es ergibt sich nun die Frage, ob es möglich ist, diese Voraussetzungen einer gedeihlichen Arbeit zu erfüllen. Wir würden, ganz grob gerechnet, etwa sechs bis geht Millionen Schilling benötigen, um die Buchbestände der Büchereien halbwegs in Ordnung zu bringen. Doch selbst wenn diese Mittel zur Verfügung stünden, wären die entsprechenden Bücher nicht vorhanden. Es wird daher jahrelanger zäher Arbeit bedürfen, um hier günstigere Verhältnisse zu schaffen.

Eine Tatsache jedoch zeigt deutlich, daß wir berechtigt sind, mit Optimismus ans Werk zü gehen: 1938 bestanden in Österreich rund 800 Büchereien, 1 9 4 5/4 6 war diese Zahl auf etwa 400 gesunken. Heute sind bereits wieder 1247 Büchereien erfaßt, die in Betrieb sind.

Davon sind nicht weniger als 578 G e- meindebüchereien, 362 werden von Pfarren getragen, während nur 38 von Vereinen und 34 von Parteien unterhalten werden. Eine interessante Umschichtung gegenüber der Zeit vor 1938! Vom österreichischen Gewerkschaftsbund werden 201 Büchereien erhalten. Der Rest verteilt sich auf verschiedene Träger. Was die Zahl der Büchereien anlangt, steht heute Oberösterreich mit 255 an der Spitze, es folgt Wien mit 252 und Niederösterreich mit 213. Auf Steiermark entfallen 186, 134 auf Kärnten, 91 auf Tirol, etwa 70 auf Vorarlberg, 35 auf Salzburg und 11 auf das Burgenland. Es gibt darüber hinaus noch Büchereien, die bisher nicht erfaßt werden konnten und daher .hier nicht aufscheinen.

Ist die Tatsache, daß trotz der schwierigen Verhältnisse heute die Zahl der Büchereien gegenüber den Jahren vor 1938 sich um mehr als 50 Prozent erhöht hat, nicht ein Beweis für den Lebens- und Aufbauwillen auch auf diesem Gebiet?

Im Zeichen dieses Willens zum Wiederaufbau und zur Zusammenarbeit stand auch die vor kurzem im Unterrichtsministerium abgehaltene Erste österreichische Büchereitagung, an der Vertreter von Büchereien und Organisationen aus ganz Österreich teilnahmen. Hier zeigte es sich, daß bereits vielerorts sehr wertvolle Arbeit geleistet wird: ein von den Teilnehmern eingesetzter Ausschuß wird eine Reihe von Agenden weiterführen, besonders die Frage einer zweckentsprechenden Büchereitechnik bearbeiten und die Schaffung eines Berufsstandes der Volksbibliothekare in Angriff nehmen.

Von wesentlicher Bedeutung für die Weiterentwicklung des Volksbüchereiwesens in Österreich wird es nun sein, daß in allen Kreisen sich immer mehr die Erkenntnis durchsetzt, daß das Büchereiwesen in seiner Breitenwirkung und Kontinuität das Rückgrat der gesamten Volksbildung darstellt.

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