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Spitzweg oder Manager?

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Am 16. September 1954 nachmittags kletterten etwa 200 Damen und Herren die unbequeme, winkelige Treppe zum Chorherrenstift Klosterneuburg bei Wien hoch, um anschließend Kirche und Schauräume des Klosters zu besichtigen. Den Hauptanziehungspunkt bildete die Bibliothek. Man wäre vermutlich noch länger geblieben, hätte nicht ab 17 Uhr die Dämmerung immer zudringlicher nach den Globen, den Bücherrücken und Regalen gegriffen. Die erlesene kleine Ausstellung von kostbaren Handschriften, Miniaturen und Einbänden konnte man überhaupt nur ahnen: Die Schränke standen senkrecht zum Fenster und Beleuchtungsmöglichkeit besitzt die gesamte Bibliothek keine, ob-zwar sie ansonsten als Hausbibliothek des Ordensseminars, als Fundgrube für bibliophile Seltenheiten und als theologische Spezialbiblio-thek den Besuchern unter ihrem rührigen Betreuer nach Kräften gerecht zu werden versucht.

Die Besucher jenes Nachmittags waren Teilnehmer des 3. Oesterreichischen Bibliothekartages, der eben in Wien abgehalten wurde. Und die Damen und Herren waren mit Recht ergriffen von der hoheitsvollen Würde, der Stille und gelassenen Atmosphäre der gezeigten Räumlichkeiten.

Denn woher kamen die Teilnehmer des Bibliothekartages? Aus überfüllten Lesesälen, aus der Hetze der Berufsarbeit, aus lärmenden, unzulänglichen Büros, aus einem ständigen, entnervenden Wettlauf mit der Zeit, einem ewigen Kampf mit den täglich neu auf sie einstürmenden Bücherfluten. Ach, das Idyll, das Spitzweg mit liebevollem Pinsel zeichnete (das übrigens „Der Bücherwurm“ betitelt ist und nicht, wie vielfach zitiert, „Der Bibliothekar“), dieses alte bebrillte Männchen auf der Höhe einer Leiter vor einem riesigen Bücherschrank, einen Folianten studierend, einen weiteren dicken Packen unter den Armen eingeklemmt, dieses Idyll existiert schon längst nicht mehr. Die moderne Bibliothek gleicht viel eher einer Fabrik oder einem wissenschaftlichen Verkehrsbüro als diesem Bild, und der liebenswürdige Spitzwegsche Sonderling tauchte lediglich mitunter ganz am Rande des Bibliothekartages auf, gedämpft, ein liebenswerter Schatten bloß der Vergangenheit und Erinnerung.

Der Buchbestand sämtlicher Ministerialbiblio-theken Wiens wird mit 700.000 Bänden angegeben, die Hauptbibliotheken der Wiener Hochschulen besitzen 1,875.000 Bände, die Institutsbibliotheken der Universität Wien allein außerdem 826.000. Die in den öffentlichen wissenschaftlichen Bibliotheken Wiens vorhandenen Bücher möchte ich vorsichtig auf insgesamt 6 Millionen Bände schätzen. Hierzu kommen die Büchereien der Vereine, gelehrten Gesellschaften, die Volksbüchereien, Klosterbibliotheken, zu schweigen von den Bibliotheken in den Bundesländern...

Diese ungeheure Büchermenge bedarf aber der

Erschließung, dieses wahre Meer an Belehrung wie Unterhaltung erfordert fein ausgebildete Navigationsinstrumente: Autorenkataloge, Karteien und Kartotheken, Schlagwortkataloge,, systematische Kataloge, Zuwachslisten, Bibliographien, eine geordnete Bücheraufstellung, Er-werbungs-, Katalogisierungsabteilungen, Magazine und dergleichen mehr. Jahr um Jahr werden zum Beispiel allein an der Universitätsbibliothek Wien an die 17.000 Bände neu bearbeitet, rund 200.000 Katalogzettel verfertigt und eingeordnet, über 300.000 Bücher und Zeitschriften benützt. .

Aber die Bibliotheken sind nicht nur Bücherspeicher, sie verfügen auch über Buchbindereien. Hausdruckereien, Mikrofilmgeräte, Photolabors, Restaurationswerkstätten, Dokumentationszentren, Zeitschriftenlesesäle, Kartensammlungen, Bildarchive.

All dies fällt in den Arbeitsbereich der Bibliothek und ich denke, daß dies nicht gerade wenig ist.

Dazu kommen die besonderen Aufbauarbeiten der letzten Jahre. So wurden

die Besucher- und Ausleiheziffern bis zu 50 Prozent über das Friedensniveau gehoben;

Bibliotheksführer herausgegeben, Zuwachsverzeichnisse in alle Welt versandt, die Leserberatung intensiviert, die Oeffnungszeiten der öffentlichen Bibliotheken verlängert, Ausstellungen und Konzerte veranstaltet;

fast alle Lücken, die durch den Krieg und seine Folgen in den Bücherbeständen entstanden waren, geschlossen;

die Bücherfernleihe weiter und immer mehr intensiviert, so daß es für den Lehrer von Langeneis ebensowenig ein Problem ist, sich die nötigen Fachbücher zu beschaffen, wie für den Arzt in Bischofshofen und den Notar in Gmun-den;

unsere Bibliotheken mit technischen Geräten aller Art ausgerüstet; es wurde

in großzügiger Form das österreichische Volksbüchereiwesen, an dem es bis vor wenigen Jahren noch sehr mangelte, ausgebaut (195 3 zählte man bereits über 1800 Volksbibliotheken);

die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen in- und ausländischen Bibliotheken weiter und immer mehr intensiviert; es wurden

die Magazinsneubauten an der Oesterreichischen Nationalbibliothek, an der Technischen Hochschule Wien, an der Universitätsbibliothek Graz fertiggestellt und Umbauten geringeren Umfanges an anderen Bibliotheken, wie zum Beispiel der Wiener Stadtbibliothek, der Bibliothek des Bundesministeriums für Handel und Wiederaufbau, der niederösterreichischen Landesbibliothek, der Bibliothek der Kammer der gewerblichen Wirtschaft;

es wurde

ein Zeitschriftenkatalög der laufenden ausländischen Periodika an cerreichischen Bibliotheken hergestellt;

die „Oesterreichische Gesellschaft für Dokumentation und Bibliographie“ gegründet und es wurde schließlich

die „Vereinigung Oesterreichischer Bibliothekare“, die seit 1952 eine neue Fachzeit-

Schrift ,,BibIos“ herausgibt, aktiviert, wofür nicht zuletzt die diversen Veröffentlichungen („Biblos-Schriften“) den Beweis liefern.

Ob noch Fragen offen sind, ob noch Probleme der Lösung harren? Wir wissen, wieviel geleistet wurde, wieviel wir erreicht haben, sind aber der Meinung, daß. noch übergenug zu tun bleibt; und unsere Wünsche, unsere Forderungen darzulegen und zu präzisieren, war ja mit eines der Ziele des vergangenen Bibliothekartages.

Die Raumnot der österreichischen Bibliotheken ist immer noch unerträglich. Eine gedeihliche Weiterarbeit kann nur durch sofortige ausreichende Neubauten gewährleistet werden. Dies gilt in erster Linie für den Neubau der Wiener Llniversitätsbibliothek. (Baugrund ist vorhanden, Pläne wurden mit vielen Kosten bereits fix und fertig ausgearbeitet.) Ein weiterer dringender Neubau ist an der Oesterreichischen Nationalbibliothek erforderlich (Leseräume, Büros).

Die Ausrüstung der Bibliotheken ist zum größten Teil (mit rühmlichen Ausnahmen) veraltet, Mobiliar und Einrichtungsgegenstände sind unzulänglich.

Das Personal ist der Zahl nach unzureichend, teilweise sogar unter den Stand von 193 8 gesunken, obgleich sich die Agendender Bibliotheken vervielfacht haben. Deswegen wurde auch die Dienstzeit nicht unerheblich verlängert, was ja an sich einzusehen wäre, aber naturgemäß auf Kosten der wissenschaftlichen Weiter- und Fortbildung der einzelnen geht. Eigene Forschungsarbeit von Bibliothekaren, früher eine notwendige Selbstverständlichkeit, ist daher praktisch so gut wie vollends zum Erliegen gekommen. Und nicht zu übersehen: Der Bibliothekar, der krampfhaft einen Nebenverdienst sucht (und dabei gar nicht wählerisch ist bzw. sein kann), ist kein Einzelfall mehr, beträgt doch die Kaufkraft seines Gehaltes im Durchschnitt rund 50 Prozent der Friedensquote, wenn's gut geht.

Unsere Hauptsorgen sind also vorerst immer noch: Raumnot, die zum Teil unzureichende technische Ausrüstung, der Personalmangel und ■ die schlechte Bezahlung unserer Beamten. Und so wagte im Grunde keiner der Teilnehmer an der Bibliothekartagung zu widersprechen, als ein erfahrener, älterer Kollege während der Schlußsitzung grollte: ,,Wie sollen wir eine weitere Steigerung der Produktivität an Bibliotheken zuwege bringen in Arbeitsräumen, die sich seit Maria Theresia kaum geändert haben, und mit LIntergebenen, die dermaßen schlecht bezahlt sind?“

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