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Der alte König

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leb kannte ihn nur von der Straße her wie die anderen Hunderttausenden und befand mich außerdem gegenüber diesen anderen im Nachteil, weil ich ja als Fremder hieher gekommen war. Jedesmal aber, wenn ich ein Bild des alten, hochgewachsenen Monarchen sah, dem ebenso ein anspruchsloser Ernst wie ein volklicher Humor anzugehören schien, überkam mich das Gefühl einer angenehmen Geborgenheit wie in längst vergangenen Zeiten, da es noch unverrückbare Ordnungen in Europa gab. Er war der Vater des Landes.

Inmitten der dichtgedrängten Stockholmer stehend, habe ich ihn im Herbst 1939 zum erstenmal gesehen: ganz aus der Ferne. Die Könige Haakon von Norwegen und Christian von Dänemark und der Präsident von Finnland, Kallio, waren damals zu einem Staatsbesuch nach Schweden gekommen. Das Schloß war erleuchtet, die Stadt beflaggt, und es ging festlich zu. Aber hinter dieser Fassade stand doch mehr als das Sichtbare einer skandinavischen Zusammenkunft. Der Anschluß war geschehen, Chamber-lain war nach München geflogen, deutsche Truppen hatten die Tschechoslowakei besetzt, der zweite Weltkrieg war ausgebrochen, Polen bestand nicht mehr. Die vier Repräsentanten der nordischen Länder hatten sich offenbar hier versammelt, um der Welt die Gemeinschaft einer Front bekanntzugeben. Das wußten wir alle, die da als Volk die Straßen und Plätze vor dem Schloß füllten, vom Gustaf Adolfstorg über die Nordbrücke, etwa 30.000 Menschen. Würde aber die Manifestation von Erfolg sein?

Ganze Familien waren hier versammelt, alte Freunde und Verwandte, auch viel Jugend mit schwarzen Gymnasiastenmützen oder den weißen Mützen der Studenten. Sie vertrieben sich die lange Wartezeit so gut es ging und zeigten dabei eine erstaunliche Erfindungskraft, Gelegenheiten zum Lachen zu entdecken, was ganz südländisch anmutete. Und sie riefen unerschöpflich „Hurral“ und sangen den feierlich getragenen Nationalgesang „Du gamla, du fria...“, als endlich die Balkontüren aufflogen und die vier nordischen Herren — die Könige ämtlich lang und schmal — sich zeigten.

Als ich den Schloßplatz verließ und durch die Drottninggata wanderte, wollte es mir doch scheinen, als ob nicht alles so sicher und gut stünde, wie, es dieser Abend uns glauben machen wollte. Ein merkwürdiges Ereignis bestätigte gleichsam diese Zweifel. Die Straße, die die Zufahrt zum Schloß bildet, war heute so dicht mit Fahnen behängt, wie ich es noch nie gesehen. Da sämtliche nordischen Länder das langgestreckte, waagrecht liegende Kreuz als Nationalzeichen im Felde trugen — nur verschieden in den Farben —, so erschienen die niedrigen, meist dreistöckigen Häuser plötzlich wie in ein Meer von Kreuzen getaucht. Es war mir da, als ginge ich durch einen Friedhof, einen Gefallenenfriedhof, wo die Grabkreuze auch so dicht nebeneinander sind. Verbarg sich eine Ahnung darin? Wenige Wochen später gab es Immerhin schon in Finnland den bitteren Winterkrieg, und der 9. April 1940, der Tag der Okkupation von Dänemark und Norwegen, stand auch gleichsam hinter der festlichen Tür des heutigen Abends.

Daß Schweden vom Kriegselend verschont geblieben war, hielt man in den ersten Jahren doch mehr für ein vorläufiges Ereignis: jeden Augenblick konnte das Geflrchtete eintreten. Der Druck blieb also bestehen. Der Feldzug in Frankreich, die drohende Invasion Englands verstärkten ihn nur. Da spielte die Gestalt des alten Königs in einer Zeit des Hangens und Bangens, da jeder dem andern versicherte, er wisse nichts und könnte nichts sagen, eine eigene, beruhigende Rolle.

Im Volk war damals eine Prophezeiung verbreitet, die sich wunderlich genug anhörte und doch — recht behielt. Woher diese Prophezeiung kam, konnte ich nicht erfahren. Aber von verschiedenen Personen — einem Kutscher, einer alten Witwe, einer Arbeiterfrau — wurde sie mir fast gleichlautend mitgeteilt, und sie ging darauf hinaus, daß das Land vom Krieg solange verschont bleiben würde, als der alte König lebte. Man fügte als Kommentar hinzu, daß ein König, der keine Krone trage, zu dieser glücklichen Friedenswirkung in der Zeit höchster Gefahr vorherbestimmt sei.

Ich konnte zuerst nicht verstehen, wie zwei so entgegengesetzte Dinge hier zusammentreffen sollten: zu einem König gehörte doch die Krone? Da erwies sich das Absurde trotzdem richtig. König Gustav V. hatte sich als erster der Dynastie Bemadotte nicht krönen lassen, sondern hatte bei seinem Regierungsantritt 1907 darauf verzichtet. Die Summe, die für die Kosten des Staatsaktes bestimmt war, sollte sozialen Zwecken dienen. Deswegen zeigten die Reichstagsbilder den die Thronrede haltenden Herrscher so, daß der königliche Hermelinmantel auf dem Fauteuil ausgebreitet lag, wo er saß, aber nicht über seinen Schultern hing. Es stimmte also: die Schweden hatten einen König, der nicht gekrönt worden war, und das Land — und damit wir alle — durften hoffen, dem Schlimmsten zu entgehen, solange dieser alte Mann lebte: der König ohne Krone.

Es geschah wirklich so, wie es mir der Kutscher, die Näherin und die Arbeiterfrau versichert hatten, und drei Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, im Juni 1948, habe ich den greisen Monarchen das zweitemal gesehen, diesmal ganz aus der Nähe.

Wieder wurde er gefeiert: sein neunzigstes Lebensjahr, seine ungewöhnlich lange Regierung. Ich stand inmitten der vielen Delegationen im Burghof des Schlosses. Der inzwischen verstorbene Ministerpräsident Per Albin Hansson erwartete ihn mit den Behörden, der Jugend und anderen Verbänden. Endlich kam er, gebeugt, aber immer noch groß, im dicken Uberrock und auf einen Stock gestützt. Er hatte trotz des Hochalters die zuvorkommende Art des Kavaliers beibehalten und grüßte nach allen Seiten mit einer freien, gleichsam aufwartenden Bewegung, die den Hut dem Gegrüßten so hinhielt, daß der gefütterte Teil nach oben gekehrt war, als ob der Grüßende damit einen kleinen Akt des Dankes und der Achtung vollziehen würde. Setzte der König den Hut wieder auf 6ein kurzgeschorenes, eisgraues Haupt, dessen oberer Teil haarlos war, so 6aß die Kopfbedeckung ein bißchen ungeschickt darauf, als ob sie zu klein wäre: ein wenig schief und hilflos wie bei einem Gelehrten.

Es war ein kühler, windiger Junitag, wie er im Norden zu dieser Zeit üblich ist, und der König nahm die Begrüßung des Ministers mit schlecht verhaltener Anstrengung entgegen. Ich sah, wie er oft in einen Zustand von Abwesenheit verfiel und dann in die Tasche griff, ihrip eine Pille entnahm und schnell auf die Zunge legte. Die Müdigkeit des Neunzigjährigen schien kaum mehr den Anforderungen des Festes gewachsen zu sein. Auch hustete er oft mit einem tief in der Brust sitzenden hohlen Ton. Trotzdem folgte er dem Festprogramm, gab dem gutgelaunten Südschweden Per Albin Hansson einen anerkennenden kleinen Schlag auf die Schulter und sprach selbst einige Worte des Dankes. Dann aber zog er sich mit den hinter ihm versammelten Mitgliedern der Familie wieder in seine Appartements zurück.

Die militärischen und zivilen Delegationen verließen den Burghof nun auch, und als ich ihnen folgte, traf ein Ereignis ein, das dieses Fest eigentümlich für mich machte. Offenbar hatten die meisten angenommen, daß der König nach erfolgter Huldigung nicht mehr sichtbar sein würde, da das unfreundliche Wetter kaum einen weiteren Aufenthalt im Freien für ihn zuließ. Man hatte sich also durch das Portal begeben und war auf beiden Seiten der Rampe gegen den Schloßpark hinabgeeilt. Während ich als einer der letzten aus dem Tor des Burghofs trat, sah ich zur Fassade ober mir hinauf. Da war Gustav V. gerade auf dem Hauptbalkon erschienen und sah hinunter, wo er — bei dieser Verspätung — statt einer aufgestellten Versammlung niemanden mehr gewahrte als den Wachtposten und meine einsame Person. Ich lüftete ehrerbietig den Hut und empfing den freundlich aufwartenden Gegengruß des Königs von oben.

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