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Der Staat im Staate

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Das vorliegende Werk eines englischen Historikers, der. aus jahrelanger Kenntnis der deutschen Vorkriegssituation seine Untersuchungen zum Teil durch die Befragung der Augenzeugen erstellte, hat heftige Reaktionen hervorgerufen. Gerhard Ritter nahm in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 20. April 1955 eine ablehnende Stellung ein, und Prof. Karl Buchheim, München, erwiderte ebenso temperamentvoll im „Rheinischen Merkur“ vom 6. Mai. Der Standpunkt der beiden deutschen Kritiker kennzeichnet eigentlich bereits die ganze Problematik des Werkes. Für Ritter, den Vertreter der altpreußischen, konservativen Staatsauffassung, die wohl, wie sein Goerdeler-Werk beweist, den Aufstand von Teilen des Offizierskorps am 20. Juli 1944 zu rechtfertigen weiß, sind die kritischen Grundlinien des Werkes von Wheeler-Bennett ein Verstoß gegen die bisherige Auffassung von der Geschichte des politischen Einflusses der Reichswehr seit 1918. Vor allem stört Ritter offenkundlich die Beseitigung mancher Legendenbildung über die politische Rolle der Wehrmachtsführung Preußendeutschlands vor 1914 und nach 1918 — wenn er auch selbst zugibt, daß die Ignoranz Ludendorffs im Herbst 1918 der politischen Reichsführung die Verantwortung für die militärische Katastrophe geradezu aufzwang, um dann geschickt die Legende vom Dolchstoß zu erfinden.

In der Einleitung des vorliegenden Werkes hat Axel Freiherr von dem Bussche-Streihorst darauf hingewiesen, daß bei gutem Willen jede beschönigende Legendenbildung um die militärpolitische Wehrmachtsführung vermieden werden soll — zum Nutzen auch der geplanten deutschen Streitkräfte. Dieser Aufgabe hat sich Wheeler-Bennett mit dem Aufwand eines beträchtlichen Quellen- und Literaturverzeichnisses unterzogen und dabei etwa zu den Ereignissen des 30. Juni 1934 auch oft dubiose Aussagen, die in der zeitgeschichtlichen Forschung nun einmal durch den Mangel an echten Quellen möglich sind, herangezogen. Ausgehend von der Tatsache, daß der Generalstab Preußen-Deutschlands sich als innerster Kern der Nation betrachtete und die Kontinuität des kaiserlichen Heeres zur Reichswehr unter größten Konzessionen an Ebert erfolgreich zu bewahren versuchte, ergibt sich die zukünftige Rolle der Reichswehr in der deutschen Innenpolitik. Die weit überschätzte Bedeutung Seeckts, der ein guter Organisator, aber ein unzulänglicher Politiker war, und gegenüber dem Marschall-Präsidenten Hindenburg strauchelte, wird quellenmäßig gut belegt dargestellt. Die unheilvolle Rolle Schleichers, dessen Persönlichkeit noch immer einer wirklichen aktenmäßigen Würdigung wartet, ist naturgemäß ein besonders erregendes Kapitel der Untersuchungen. Als Hitler die Macht errang und in Blomberg seinen willfährigen Vollstrecker im Bereich der Wehrmacht fand, hatte die Wehrmacht ihre Bedeutung als politischer Faktor längst eingebüßt, um so mehr als die Kontakte zwischen dem Führer der NSDAP und den Spitzen der sich so unpolitisch gebenden Reichswehrführung gewissermaßen auf eine zunächst loyale Zusammenarbeit hinweisen. Es bedurfte nicht eines sagenhaften Abkommens zwischen Hitler und Blomberg, um den 30. Juni 1934 heranzuführen, wie Wheeler-Bennett glaubt. Helmuth Krausnick hat in seinen genauen Untersuchungen zur Vorgeschichte dieses Tages die diesbezüglichen Hintergründe bereits aufgeklärt. Die schwerste Krise der deutschen Armee begann mit dem Jänner 1938, als Fritsch und Blomberg verabschiedet wurden. und die Warnungsrufe Becks gerade am Vorabend der Oester,reich-Krise nicht die nötige Beachtung erfuhren. Von dieser Stunde an wurde die Nemesis als die Göttin der strafenden Gerechtigkeit und Rächerin der menschlichen Frevel immer merkbarer für die Generalität, welche einstmals geglaubt hatte, unter Seeckt eine Wehrmacht als Staat im Staat aufbauen zu können für die Stunde X, da ein unbekannter Faktor die Führung des Reiches übernehmen sollte. Der Sprung ins Ungewisse, den auch die Offiziere der Reichswehr mitmachten, wurde Deutschland und Europa zum Verhängnis.

Gerechterweise zeigt aber stich Wheeler-Bennett, wie stark die Opposition des höheren Offizierskorps anwuchs. Bestens vertraut mit den verschiedenen, oft für uns noch gar nicht erreichbaren Denkschriften, Gerichtsakten und sonstigen Unterlagen entsteht ein faszinierendes Bild des Endkampfes zwischen den politisch-denkenden Gruppen des Generalstabs und Hitlers Hauptquartier. Allerdings billigt zwischen den Zeilen der Verfasser den Offiziersgruppen, die aus bitterster Gewissensnot handelten, nicht nur patriotische Motive zu, sondern vermeint auch den Versuch der Fortsetzung der Vormachtstellung des

Generalstabs hinter den Kulissen erblicken zu können. Deswegen auch seine Mahnung, gegen eine zweite deutsche Dolchstoßlegende auf der Hut zu sein, die angesichts der jüngsten Publikationen nicht ganz unberechtigt erscheint. Der größte Wert des vorliegenden Buches beruht auf der Fülle des Materials. Erst nach der endgültigen Freigabe der militärischen Akten Deutschlands, die zum größten Teil noch in den USA liegen, wird die Gegenseite ihre Stimme erheben können und ein abgerundetes Bild eistehen.

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