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Die Waff entat des Feldherrn Psychologos

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DIE NATIONALSOZIALISTISCHE MACHTERGREIFUNG. Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Sauer, Gerhard Schulz. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933 bis 1934. Von Schriften des Instituts für politische Wissenschaft, herausgegeben vom wissenschaftlichen Leiter, Prof. Dr. Otto Stammer, Berlin. Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen, 1960. 1034 Seiten. Preis 59 DM.

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DIE NATIONALSOZIALISTISCHE MACHTERGREIFUNG. Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Sauer, Gerhard Schulz. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933 bis 1934. Von Schriften des Instituts für politische Wissenschaft, herausgegeben vom wissenschaftlichen Leiter, Prof. Dr. Otto Stammer, Berlin. Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen, 1960. 1034 Seiten. Preis 59 DM.

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Unter der Oberleitung von Prof. Karl Dietrich Bracher, der schon seinerzeit mit seinem Werk über die Auflösung der Weimarer Republik Aufsehen erregte, erschien in Zusammenarbeit mit Wolfgang Sauer und Gerhard Schulz eine umfangreiche Studiensammlung, welche die einzelnen Phasen der Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933 34 durchleuchtet. Die Basis der Arbeit ist, ebenso wie Brachers erstes Werk, vornehmlich die Auswertung der gedruckten Quellen und der Literatur, aber auch zahlreicher ungedruckter Quellen aus dem Bundesarchiv in Koblenz, dem Bayrischen Hauptstaatsarchiv und Verschiedenen anderen Beständen, wie etwa dem amerikanischen Document Center in Berlin, das vor allem Akten zur Geschichte der NSDAP und der SA enthält.

Bracher hat in seinem Beitrag, der vor allem die ersten Stufen der Machtergreifung über den Tag von Potsdam bis zur ideologische Gleichschaltung behandelt, ein objektives Bild des neuen außenpolitischen Kurses gegeben und auch den Fall Österreich, klar und deutlich als Aggression geschildert. Besonders verdient auch das Kapitel über den „Tag von Potsdam” hervorgehoben zu werden (S. 144 ff.).

Hitler verstand es, durch seinen Appell an die preußische Vergangenheit den nachfolgenden Weg zum Ermächtigungsgesetz vor dem In- und Ausland in einem verklärten Licht erscheinen zu lassen. Aber ebenso wie Hitlers Manipulation der inneren Macht, der ideologischen Gleichschaltung und der Außenpolitik, waren die Besetzungsmaßnahmen der einzelnen staatlichen und kommunalen sowie wirtschaftlichen Machtpositionen von besonderer Bedeutung. Für dieses verwaltungsgeschichtliche Kapitel, das Gerhard Schulz souverän meistert, ist bezeichnend, daß die sogenannte „Reichsreform” zwar mit bombastischen Maßnahmen begonnen wurde, jedoch trotz der Reichsstatthaltergesetze sang- und klanglos an der übermächtigen Position Preußens scheitern mußte. Auch die späteren Eingliederungsgesetze nach der Annexion Österreichs, der Sudetengebiete .usw. leiteten am

Ende keine Reichsrefom ein, vielmehr wurden diese Gebiete als Experimentierfeld eines neuen Kolonialsystems be trachtet.

Von entscheidender Bedeutung für die wirkliche Machtergreifung war das Verhältnis der Reichswehr zur nationalsozialistischen Revolution. Wolfgang Sauer hat das wohl bedeutungsschwerste Kapitel gleichwertig mit den anderen Verfassern nicht nur gemeistert, sondern dazu auch neue Forschungsergebnisse geliefert. Manches Bild über das Verhältnis Hitlers zur Reichswehr, wie dies amerikanische Historiker wie Gordon oder deutsche Offiziere wie Hoßbach zeichnen, wird korrigiert. Zunächst ist es gelungen, die ganze Verschwöreratmosphäre, in der das Offizierskorps der Reichswehr seit dem Jahre 1918 zu leben gewohnt war und den Nationalsozialismus frühzeitig förderte, richtig auf das „Zwiedenken” der Offiziere zurückzuführen. Dieses „Zwiedenken” geht letztlich darauf zurück, daß man auf Grund der Dolchstoßlegende nicht bereit war, die Realität von Versailles anzuerkennen, und es vor allem nie zur Grundsatzentscheidung der Armee für die Republik von Weimar kam. „Die Reichswehr diente jetzt, so lautete die offizielle Version, einer imaginären ,Staatsidee1, die über den wechselnden .Staatsformen’ wie Monarchie und Republik stehen sollte. Das erlaubte ihr den Waffendienst für die Republik, hielt ihr aber auch die Tür für eine Revision dieses Dienstverhältnisses offen. Die Masse der Soldaten wurde zu einem doppelten Gehorsam verpflichtet: Formell der Republik, de facto ihrer obersten militärischen Führung gegenüber, die ihrerseits sich das Recht auf Ungehorsam vorbehielt, es aber vorläufig nicht ausübte, sondern eine Wartestellung bezog, von der aus sie einem unerwünschten Regimewechsel entgegenwirken, einen erwünschten aber fördern konnte” (S. 698).

In einer Meutereratmosphäre gegen die legale Staatsgewalt wuchsen so die jungen Offiziere auf, die beim Novemberputsch 1923 gegen die gesetzliche Kommandogewalt auftraten, ohne bestraft zu werden. Dazu kam aber, daß die Reichswehr im eigenen Bereich durch die Sei affung des „Ministeramtes”, das Schleicher so souverän handhabte, sich dauernd auf das Feld der inneren und äußeren Politik begab, ja darüber hinaus durch gewagte, ofl abenteuerliche geheime Rüstungsmaßnahmen. die faktisch wenig Wirkung hatten, Offiziere in ständige Gewissenskonflikte mit der Verfassung brachte. Keir unpolitisches Offizierskorps bildeten die führenden Offiziere der Reichswehr, sondern ein durch und durch politisierendes die Macht bedenkenlos gebrauchend, ohrn zu merken, daß sie damit Hitler den Weg zur schrankenlosen Diktatur freigaben Als sich die bayrische Regierung im Mär:

1933 angesichts der illegitimen Gleichschaltung Bayerns an die Reichswehr um Hilfe wandte, wurde diese ebenso verweigert, wie Reichenau schon im Februar 1933 jedwede Unterstützung von politisch Verfolgten, die bei der Truppe Zuflucht suchen mochten, ablehnte (S. 729). Das Wiedererstehen der militärischen Gerichtsbarkeit, die Möglichkeiten einer raschen Karriere und Aufrüstung beseitigten alle Bedenken, auch bei einem großen Teil der später am 20. Juli 1944 beteiligten Offiziere, wie Treskow, Stauffenberg, Mertz, um nur einige Beispiele anzuführen (S. 738): sie begrüßten enthusiastisch die Vereinigung von Revolution und Reichswehr, um später ihr Damaskus erleben zu müssen. Entsprach nicht Hitler — der offenkundig das Problem der Bewältigung der Massen, an welchem der deutsche Generalstab im ersten Weltkrieg gescheitert ist, bewältigte — jenem sagenhafte Feldherrn „Psychologos”, den der Reichsabwehroberleutnant Kurt Hesse schon 1922 für die „große Mobilmachung aller Willen und Kräfte” in einer aufsehenerregenden Schrift gefordert hatte?

Nur einmal schreckte die Reichswehrführung vor dem zurück, was sie selbst mit einzuleiten allzu gerne gewillt gewesen war: vor der totalen Auslieferung des Staates an eine Machtgruppe. Allerdings betraf dieses Zurückschrecken die Konkurrenz im Lager Hitlers. Der Zweikampf zwischen dem ehemaligen bayrischen Ge- ncralstabshauptmann Rohm, der sich schon als der zukünftige Feldherr einer nationalsozialistischen Massenarmee sah, und den „Professionals” der Reichswehrführung, gipfelnd im 30. Juni 1934, ist in Sauers

Darstellung bis ins kleinste Detail aufgehellt. Rohm und seine schwerfällige SA-Massenarmee revoltierten nicht, und Hitler verbündete sich mit der Reichswehr und der noch zahlenmäßig unbedeutenden, dafür innenpolitisch um so bedeutsameren SS gegen den einzigen seiner Parteiführer, der ihm auf die Dauer gefährlich werden konnte: Ernst Rohm. Nach den Schüsse des 30. Juni wußte Hitler, was alles er einem Offizierskorps zumuten durfte, das die Ermordung zweier Generäle hinnahm und gleichzeitig die Waffen für die Exekutionen und die machtmäßige Abschirmung des 30. Juni 1934 nach innen und außen vorbereitete. Das so heftig umkämpfte Waffenmonopol der Wehrmacht mußte fortan nicht mit Röhm, sonder mit Hitler geteilt werden.

Wenige Wochen nach dem Blutbad gegen die SA-Führer schwor die Reichswehr den persönlichen Eid auf den neuen „Reichspräsidenten” Hitler, der diesen Titel gar nicht mehr annahm, aber als oberster Befehlshaber der Wehrmacht nunmehr bereit war, den vielschichtigen Prozeß der Machtergreifung bis zum letzten zu vollenden. Am 4. Februar 1938 erhielt Blomberg die Quittung für seine Hilfeleistung in den entscheidenden Monaten der Jahre 1933 34: Der erste Feldmarschall des Dritten Reiches trat nach einer makabren Affäre ab, und Hitler konnte sich nunmehr, geschmückt mit dem goldenen Eichenlaub der Generalität, der vollkommenen und unmittelbaren Kommandogewalt über die gesamte Wehrmacht bemächtigen.

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