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Ein Jahr nichts dazugelernt?

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„Wir dürfen einander als Menschen nicht abhanden kommen“, mahnte Caritas- Präsident Helmut Schüller in Hartberg.

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„Wir dürfen einander als Menschen nicht abhanden kommen“, mahnte Caritas- Präsident Helmut Schüller in Hartberg.

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Die erste Bombe explodierte am 3. Dezember 1993 um 11.05 Uhr in der Hartberger Pfarrkanzlei. Es war der Auftakt einer Serie von Briefbombenattentaten, die vor einem Jahr die österreichische Öffentlichkeit schockierten. Dabei wurden nach dem Hartberger Pfarrer August Janisch noch der Wiener Bürgermeister Helmut Zilk und die ORF-Journalistin Silvana Meixner schwer verletzt, bei einigen anderen Adressaten - darunter Caritas-Präsi- dent Helmut Schüller - konnten die Bomben rechtzeitig entdeckt und entschärft werden. Daß die Verantwortlichen aus dem rechtsextremen Lager kommen, gilt als sicher. Die Opfer waren alle durch ihr engagiertes Eintreten für Ausländer bekannt.

Auf Initiative von Pfarrer Janisch kam es am 2. Dezember in Hartberg zu einem „Nachdenken über Österreich“, an dem sich neben Silvana Meixner und Helmut Schüller führende Mitglieder von „SOS Mitmensch“ und zahlreiche prominente Gäste beteiligten. Es ging um eine Bilanz der Entwicklung seit dem Explodieren der Briefbomben.

Daß sich in Österreich seither viel geändert habe, wurde von den meisten Teilnehmern bezweifelt, auch von der steirischen Schriftstellerin Andrea Wolfmayr. Sicher, einige seien hellhörig geworden, aber anderseits sei ausländerfeindliches Reden in Österreich heute viel weniger verpönt als noch vor wenigen Jahren.

Dem Linzer Theologen Jozef Nie- wiadomski machen die Entwicklung bezüglich Einstellung zum Rechtsextremismus und das Schwinden an Motivation zum solidarischen Handeln Sorge, sehr positiv bewertet er, daß die katholische Kirche in dieser Frage „zu einem Konsens ohnegleichen“ gefunden habe. Die Ausländerfrage sei das einzige Thema, das sich vom Jahresanfang bis zum Jah-resende in kirchlichen Äußerungen durchgezogen habe und wo der kirchliche Standpunkt weithin akzeptiert werde.

Drei „Spiele“ hätten leider im vergangenen Jahr nicht abgenommen, bedauerte der langjährige steirische Landespolitiker Kurt Jungwirth: das Spiel mit der Existenzangst (Wie wird Arbeit neu ver-teilt?), das Spiel mit der Angst vor dem Fremden und das Spiel mit der Gewalt. Mit Bildern von Gewalt werde heute ein Geschäft gemacht.

Der Grazer Bürgermeister Alfred Stingl beklagte die „Unkultur“ in der politischen Sprache, man müsse wieder zu einer Sprache des Dialoges kommen und das zum „Jahr der Toleranz“ erklärte Jahr 1995 dazu nützen. Eine Änderung der Ausländergesetze wäre ein „erster Schritt“ in die richtige Richtung.

In der Diskussion wurde eine überwiegend negative Bilanz der österreichischen Ausländerpolitik gezogen. Die Frage, ob die für eine rigorose Respektierung der Menschenrechte aller Ausländer eintretenden Österreicher die Mehrheit oder die Minderheit sind, wurde unterschiedlich beantwortet. Alfred Stingl, der für „eine Ideologisierung der Politik im Sinne von Grundwerten“ eintrat, betonte, es könne auch „eine Minder-heit moralisch und auch politisch im weitesten Sinn sehr mächtig werden“. Stingls Anregung, einige konkrete Forderungen zu erheben, führte dazu, daß ein kleines Team den nebenstehenden „Hart-berger Aufruf“ formulierte. Diesen

Text trug Pfarrer Janisch bei der anschließenden Kundgebung bei Kerzenschein auf dem Hartberger Hauptplatz vor. Dort ermunterte der Künstler Willi Resetarits („Ostbahn- Kurti“) eindringlich zur „Zivilcourage“ und kritisierte die Verschärfung der Ausländergesetze.

Caritas-Präsident Helmut Schüller stellte fest, daß dem modernen Menschen der Mitmensch abhanden zu kommen droht: „Lassen wir uns zurückholen von unserem Egotrip, auf den uns der Reichtum und der gedankenlose Friede seit Jahrzehnten geschickt haben.“ Er forderte, man solle der „grauenhaften, zerstörenden Stimme der Gewalt die aufbauende, selbstbewußte Stimme der Solidarität entgegensetzen“ und schloß: „Als Christ und Priester schaue ich jetzt schon auf jenen Punkt in unserer Welt, an dem Gott selbst sich nicht zu gut war, ein kleiner armer Mensch zu werden. Seither braucht niemand mehr Angst zu haben, daß ihm mit Solidarität ein Stein aus der Krone fällt.“

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