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Freiwild für Stehplatzcliquen ?

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Es sei demokratisch, hören und lesen wir, daß ein jeder im Theater seine Gefühle laut zum Ausdruck bringen dürfe. Er kann' brüllen, klatschen, pfeifen, buhen, „Bravo!“ oder „Pfui!“ rufen. Dagegen ist nichts zu sagen, wenn zwei Momente beachtet werden: Die Gefühlsäußerungen müssen spontan erfolgen und dürfen nicht der Ausdruck einer Animosität gegen einzelne Künstler sein. Wenn jedoch von vornherein Aktionen gegen Mitwirkende geplant werden und wenn die persönliche Animosität sogar in Haß umschlägt, hat dies mit der freien demokratischen Meinungsäußerung nichts zu tun. Im Gegenteil.

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Es sei demokratisch, hören und lesen wir, daß ein jeder im Theater seine Gefühle laut zum Ausdruck bringen dürfe. Er kann' brüllen, klatschen, pfeifen, buhen, „Bravo!“ oder „Pfui!“ rufen. Dagegen ist nichts zu sagen, wenn zwei Momente beachtet werden: Die Gefühlsäußerungen müssen spontan erfolgen und dürfen nicht der Ausdruck einer Animosität gegen einzelne Künstler sein. Wenn jedoch von vornherein Aktionen gegen Mitwirkende geplant werden und wenn die persönliche Animosität sogar in Haß umschlägt, hat dies mit der freien demokratischen Meinungsäußerung nichts zu tun. Im Gegenteil.

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Bei der sonntägigen Staatsopernpre-miere von Verdis „Don Carlos“ war schon vorher bekannt, daß gegen den Dirigenten Horst Stein, den Regisseur Otto Schenk und den Bühnenbildner Jürgen Rose Mißfallensäußerungen geplant seien. Schenk und Rose entzogen sich diesem vorgefaßten Urteilsspruch dadurch, daß sie gar nicht vor den Vorhang kamen. Stein wurde jedoch von den Mitwirkenden halb mit Gewalt vor den Vorhang gezogen und war dann fassungslos, als ein nicht unbedeutender Teil der Stehplatzbesucher mit Buhrufen den Applaus der anderen Besucher zu übertönen vermochte. In jedem Anwesenden, der sich noch einen Rest von Anstand bewahrt hat, kam ein Gefühl der Scham auf, als er den kleinen Mann oben an der Bühnenrampe hilflos stehen sah, weil es ihm unbegreiflicher schien, daß seine dirdgentische Leistung einen derartigen Haßausbruch hervorrufen konnte. Das Gefühl, daß hier der Wunsch, einen Menschen fertig zu machen, die Triebkraft des Buhrufens war, mußte sich geradezu aufdrängen. Es gab zwar Unsicherheiten im Orchester, und es dauerte eine Weile, ehe die Nervosität verschwand. Auch kann man darüber streiten, ob Stein ein guter Verdi-Dirigent ist. Doch darauf kam es bei der vorgeplanten Demonstration gar nicht an. Nicht die Leistung des Dirigenten stand als Anlaß zur Demonstration zuoberst, sondern die Tatsache, daß Stein für eine Gruppe von Stehplatzbesuchern einfach eine Persona ingrata ist. Schon bei seiner Interpretation von Wagners „Ring“ wurde er von diesen Leuten ausgezischt. Dabei kann es gar nicht das Können dieses Mannes sein, das nicht abzuleugnen ist, es kann nur sein Typ sein, das dieser Buhruferclique nicht gefällt, und das stimmt bedenklich, um so mehr, als schon seinerzeit bei der letzten „Fidelio“-Aufführung, die Leonard Bernstein dirigierte, diesem ähnliches widerfuhr, wenn auch die Zahl der Buhrufer nur einen geringen Prozentsatz von den Buhrufem am vergangenen Sonntag ausmachte. Hier bildet nicht das Nein zu einer künstlerischen Leistung den Antrieb zu den Mißfallensäußerungen, sondern eine unterschwellige Abneigung gegen einen bestimmten Menschentyp, und die daraus entspringende Aggressionslust kann nicht scharf genug verurteilt werden. In einer funktionierenden Demokratie muß die Minderheit dös Recht zur Meinungsäußerung besitzen; Nun kann es aber sein, daß die Minderheit die Mehrheit zu vergewaltigen versucht, daß sie sich Freiheiten anmaßt, die die Freiheit der anderen beeinträchtigen, wenn nicht gefährden. Der Nationalsozialismus beispielsweise berief sich bei allen seinen Aktionen in der Weimarer Republik auf die demokratischen Freiheitsrechte. Das Gleiche taten auch die Kommunisten. Die Nationalsozialisten beschimpften, prügelten und terrorisierten die anderen, doch wurde ihnen Gleiches mit Gleichem vergolten oder der Staat griff ein und verbot eine ihrer Gliederungen oder verhängte über einen ihrer Redner ein Redeverbot, dann schrien sie: die Demokratie ist in Gefahr; die Freiheitsrechte der Bürger werden eingeschränkt. So gelang es den radikalen Gruppen, die sich zunächst in einer verschwindenden Minderheit befanden, die Demokratie zu unterhöhlen. Als aber das Fundament der Demokratie erschüttert und der demokratische Widerstandswille der Bürger gelähmt waren, konnten die Nationalsozialisten völlig legal zur Macht gelangen. Nun wollen wir die Aktionen in der Staatsoper nicht mit den nationalsozialistischen Aktionen in der Weimarer Republik vergleichen. Noch werden keine weißen Mäuse im Theater ausgelassen oder Stinkbomben geworfen, wie es Goebbels und seine Leute anläßlich der Berliner Aufführung des Films „Im Westen nichts Neues“ getan haben. Noch nicht. Spürt man aber den Haß und die wilde Entschlossenheit, mit der solche Aktionen wie am vergangenen Sonntag in der Staatsoper durchgeführt werden, dann scheint es nicht ausgeschlossen zu sein, daß auch noch Ärgeres geschieht. Es stören weder Beifalls- noch Mißfallensäußerungen, wenn sie spontan erfolgen. Sind letztere geplant, dann verletzen sie drei Grundsätze: Die Gerechtigkeit, weil sie eine Verurteilung vornehmen, ohne sich nach den Tatsachen zu richten; das demokratische Recht der freien Meinungsäußerung, weil sie eine manipulierte Meinung dem Publikum aufzudrängen versuchen und dieses dadurch verunsichern; die Menschlichkeit, weil sie Menschenjagd betreiben und damit in einem demokratischen Staat terroristische Methoden anwenden.

Gegen derartige Methoden hat ein demokratischer Staat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich zu wehren, auch wenn sich solche Fälle nur in der Oper abspielen. Man darf dies nicht als jugendlichen Überschwang abtun, wenn aufgehetzte Jugendliche eine Art Menschenjagd und Meinungsterror betreiben. Sicherlich haben sich die Künstler ebenso wie alle im Brennpunkt des öffentlichen Interesses Stehende der Kritik zu stellen, aber sie sind nicht Freiwild von Stehplatzcliquen. Nun ist es nie angenehm, in einem demokratischen Staat nach der Polizei zu rufen. Ehe man zu diesem letzten Ausweg greift, wäre es gut, die Rädelsführer solcher Aktionen in einer öffentlichen Diskussion zu stellen. Wenn sie nämlich aus den Mauselöchern ihrer Geheimbündeleien herausgehen müssen, wird sich ihre wilde Entrüstung als kleinlicher und kläglicher Haß erweisen. Vielleicht wird ihnen dann selbst ein Licht aufgehen.

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