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Führer durch unruhige See

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„Aufbruch zur christlichen Sozialreform.“ Von Friedrich Funder. Herold-Verlag, Wien-München 171 Seiten. Preis 32 S.

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„Aufbruch zur christlichen Sozialreform.“ Von Friedrich Funder. Herold-Verlag, Wien-München 171 Seiten. Preis 32 S.

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Unter diesem Titel hat uns der Verfasser ein Werk geschenkt, das man ebenso heißen könnte: Franz M. Schindler. Denn es enthüllt uns Nachfahren das Leben und Wirken dieses großen Priesters und Sozialpolitikers. Dennoch gilt der Titel, denn der „Aufbruch zur christlichen Sozialreform“ ist in Oesterreich wesentlich das Werk Schindlers. Es gehört, literarisch gesehen, zum Reizendsten, wie Funder es versteht, den Ablauf dieses Lebens mit der realen Geschichte der Sozialpolitik jener Jahre in einem zu zeichnen. Vorausgesetzt ist für beides die drängende und mahnende Großleistung und der Plan Karl Freiherr von Vogelsangs: die Neuordnung der Gesellschaft aus dem Geiste der Kirche als dem universalen, sittlichen Ordnungselement jeder Zeit. Vogelsang, der Ankläger, Vorkämpfer, starb 1890. Sein Werk wird durch Franz Schindler zum Programm, das der christlichen Sozialbewegung der neunziger Jahre Elan und handfesten Inhalt gab. Eine gewaltige Zeit der inneren Geschichte unseres Landes und der Kirche. So beschämend es auf den ersten Blick für uns Theologen ist, daß ein Laie über das Leben dieses großen Theologen schreiben mußte — niemand hätte diese Periode besser nachzeichnen können, als Friedrich Funder, der sie als junger Mann in engster Fühlung mit ihrem Herold durcherlebt hat. Wir haben hier ein quellenmäßig gut belegtes Kapitel der jüngsten Geistesgeschichte. Neben der sauberen Sachlichkeit spricht nicht nur der Wissende zu uns, hier führt die Dankbarkeit und Ehrfurcht die Feder, und ein wenig spürt man die Sorge, es könnten die Gegenwärtigen vergessen, auf welchen Schultern sie stehen oder zu stehen hätten.

Der Bauernsohn aus dem Böhmischen Erzgebirge macht sein Gymnasium in Maria-Schein, seine Theologie in Leitmeritz. In seinen Kaplansjahren beschäftigt ihn die Kathechismusreform. In den von ihm angeregten „Freien Klerus-Konferenzen“ meldet sich bereits der kommende Sozialreformer. 1874 wird er vom Kaiser in das höhere Priesterbildungsinstitut St. Augustin nach Wien geholt (was für Funder Anlaß ist, eine schöne und kurze Geschichte des Frintaneums zu geben, S. 21 ff.), 1877 promovierte er zum Doktor der Theologie, bald trug er Moraltheologie in Leitmeritz vor, seit 1887 war er durch 30 Jahre Inhaber der Lehrkanzel für Moraltheologie in Wien. Das war seine große Zeit. Die Zeit des großen Aufstiegs der christlichen Sozialreform. Der Verfasser schildert zuerst äußerst informativ die sozialen Nöte und die ungelösten Probleme (S. 46 ff.) der zwei letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts. Sie waren für Schindler Anlaß und Aufgabe. Die Schulung einer geistigen Elite erfolgte in den „Entenabenden“ (S. 58 ff.). Die Sammlung der katholischen Geister und ihre Verpflichtung auf Erfüllung leistete die Leo-Gesellschaft. Schindler war von 1892 bis 1913 ihr Generalsekretär. Aufstieg und Leistung der Leo-Gesellschaft wird von Seite 115—125 berichtet. Das aufregendste Kapitel (S.'99—117) schildert, wie Franz Schindler die christliche Sozialbewegung durch sein kühnes Eintreten gegen die Denunziation in Rom rettet. Dann kam seine „Oelbergstunde“, die ihm aus der Treue zu seinem Freunde, Professor Albert Ehrhard, erwuchs. Zweimal wird er als Bischof vorgeschlagen (Linz, Leitmeritz), beide Male scheiterten an der Verdächtigung. Schindler legte (1913) die Führung der Leo-Gesellschaft nieder und wollte auch von seiner Lehrkanzel scheiden (S. 128 ff.). Die Denunziationen schlagen diesem frommen und seiner Kirche mit jeder Faser ergebenen Priester eine Wunde, die nie verheilte. Schindler selbst sprach wenig von ihr. Pius X. löschte allen Verdacht weg mit der Ernennung Schindlers zum Proto-notar. Das IX. Kapitel bringt die aufregende Vorgeschichte der „Reichspost“, lehrreich durch ihre Analogien für spätere Geschlechter (S. 113—145). Das X. Kapitel gibt einen Ueberblick über die theologische Leistung Schindlers. Dann folgt die ergreifende Darstellung seiner letzten Wochen und seines Todes.

Erschüttert und dankbar schließen wir das Buch. Drei kostbare Jahrzehnte jüngster österreichischer Geschichte sind mit ihm der Vergessenheit entrissen. Einer, der sie selbst miterstritten und miterlitten hat, hat sie geschrieben. Mancher wird vieles zum erstenmal erfahren. Und immer etwas, das nicht vergessen werden darf. Manchmal hat man sogar den Wunsch, Funder hätte mehr erzählt, so wenn er (S. 75) „Fährlichkeiten weiß und verschweigt“. Dasselbe gilt von „allerlei Gefahren“ in den Verhandlungen Schindlers mit Albert M. Weiß (S. 110). Denn die Menschen sind immer gleich. Es trösten Analogien von gestern so „allerlei Gefahren“ der Bahnbrecher von heute.

Soll man noch die konzinne Darstellung, die ganz saubere sachliche Diktion des Verfassers nennen? Es erübrigt sich. Als Belege hiefür sollen drei Urteile über F. M. Schindler festgehalten werden, in Ausdruck und Inhalt von dauernder Gültigkeit: Er war der „von der Oeffent-lichkeit ungesehene Führer des Fahrzeugs durch

die unruhige See jener Jahrzehnte“ (S. 110); er war ein „hochfliegender Geist mit bescheidener Gelassenheit“ (S. 28); er war ein „in Selbstzucht der Gefühle und des Wortes geübter Mann, der selten sein Herz eröffnete“ (S. 126). Und noch eins: Ein Denkmal, das ihm der dankbare Jünger und Erfüller eines großen Planes Schindlers setzte: „Das Herold-Haus in der Wiener Strozzigasse ist das Monument Franz Schindlers“ (S. 145).

Ein paar Druckfehler: Erhard kam nicht 1908 nach Wien, er hatte schon 1902 von Wien Abschied genommen (S. 127). S. 87: Sektionsrat Schei m e n pflüg. Schindler ist nicht durch das einstimmige Votum der 16 Wahlmänner aller Fakultäten an den Wiener Lehrstuhl gekommen. Die Ernennung erfolgte, wie immer, über Vorschlag der Fakultät durch die Regierung. Hier dürfte eine Verwechslung mit Schindlers Wahl zum Rektor vorliegen (S.146).

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