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Hartnäckige „Schwarzgesichter“

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Nicht zum erstenmal ertönt in Frankreich der Ruf: „Charlot des Sous.“ Er ist Charles de Gaulle sogar schon persönlich zu Ohren gekommen, denn unter den vielen Händen, die sich ihm auf seinen Provinzreisen entgegenrecken, befindet sich gelegentlich auch die Faust eines Arbeiters, den der hohe Besuch durchaus nicht über seine materiellen Alltagssorgen hinwegtröstet. Aber zum erstenmal tsieht siefi',he Fünfte Republik einer geordneten und disziplinierten gewerkschaftlichen Massenbewegung gegenüber, die alle Chancen hat, sich weiter auszubreiten. Zum erstenmal erweist sich die Zwangsrequisition gegenüber Streikenden als wirkungslose Waffe. Zum erstenmal haben sich die Ingenieure und Verwaltungskader des französischen Bergbaues der Aktion der Grubenarbeiter angeschlossen und geweigert, irgendwelche Sanktionen gegen die Streikenden zu unternehmen.

Vielleicht hat General de Gaulle zum erstenmal seine Meister gefunden; einerseits in den Fleischern, an deren zäh steigenden Beefsteak-Preisen sich schon mancher zuständige Minister oder Staatssekretär die Zähne ausgebissen hat; anderseits in den „gueules-noires“, den „Schwarzgesichtern“, aus den französischen Gruben, die sich mit ihren Lohnforderungen nicht mehr auf bessere Tage vertrösten lassen wollen. Die Einberufungsorder gegen die streikenden Bergarbeiter trägt die Unterschrift des Staatspräsidenten. Sie entspricht seiner Vorstellung vom sturmumtobten Staatsschiff, dessen Passagiere ruhig an ihren Plätzen Weihen sollen, während der Kapitän mit autoritärer Hand die Klippen umsteuert. Auf ähnliche Weise hat er bisher die Armee und das Parlament in ihre Schranken gewiesen. Dieselbe Taktik gegenüber den Grubenarbeitergewerkschaften war vielleicht in diesem Moment ein psychologischer Mißgriff. Aus einem klassischen Lohnkonflikt im öffentlichen Sektor ist nun eine bösartige Kraftprobe um das

Prinzip des Streikrechts geworden, in der sich die staatliche Autorität keineswegs erhärtet. Außerdem haben die Eisenbahner, die( Angestellten der Pariser Verkehrsbetriebe und das Personal des französischen Rundfunks in kurzen Sympathiestreiks ihre Solidarität bekundet.

Was blieb von den sozialen Vorsätzen?

Die französischen Staatsangestellten sind im Laufe der Fünften Republik zu oft mit der Begründung an ihre Plätze geschickt worden, der Herr Staatspräsident sei zur Zeit mit dringenderen Problemen beschäftigt. Mit der Beendigung des Algerienkrieges bestärkte sich ihre Auffassung, daß dis Reihe nunmehr an sie gekommen ist. Die guten sozialen Vorsätze der Regierung zu Jahresanfang ließen vermuten, den Forderungen der Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor werde jetzt Gehör geschenkt. Der kalte und lange Winter, die anhaltenden Preissteigerungen und eine leichte Verschlechterung der Außenhandelsabschlüsse haben nun nach der mißglückten politischen „Öffnung nach links“ auch die soziale Verständigung im Keime erstickt. Die Kohlenhalden, deren Umfang bisher jeden Streik der Bergarbeiter sinnlos erscheinen ließ, waren plötzlich weggeschrumpft, und die Regierung sah sich damit in einer weit ungünstigeren Verhandhings-position. Auch der barsche Einberufungsbefehl kann die verschleppten Entscheidungen und Unterlassungssünden nicht mehr gutmachen.

Die Preise klettern

Was den eigentlichen Lohnkonflikt betrifft, führen beide Seiten dasselbe Argument ins Treffen: die Preissteigerungen. Sie bestärken die Entschlossenheit der Grubenarbeiter, einen Lohnrückstand gegenüber anderen Wirtschaftssektoren von angeblich elf Prozent ohne Verzug wettzumachen und gleichzeitig eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit von 48 auf 40 Stunden ohne Verringerung des Einkommens zu verlangen. Die Regierung möchte gemäß dem IV. Wirtschaftsplan nicht über eine Lohnaufbesserung von höchstens 5,77 Prozent hinausgehen, um keinen Präzedenzfall zu schaffen. Die Spitzen der Gewerkschaften haben Verständnis für die Absicht der Regierung, jetzt nicht noch Öl in das Feuer der glimmenden Inflation zu gießen. Aber diesmal ist der Widerstand gegen die Regierung von der Basis der Arbeitnehmerschaft ausgegangen. Nach den „pieds-noirs“ bekommt es de Gaulle mit den „gueules-noires“ zu tun; und die letzteren sind gefährlicher: sie überlassen ihre Sache nicht den Politikern oder Militärs.

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