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Invalidität nach dem zweiten Weltkrieg

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So wie die Verluste an Menschenleben ist auch die Invalidität angestiegen. In ganz Österreich wurden seit Kriegsende 1945 bis jetzt 84.561 Invaliden- und 111.000 Hinterbliebenenrenten zuerkannt. In Behandlung stehen 50.000 Beschädigten-und 12.000 Hinterbliebenenanträge. Nach einem Gesetz der Bundesregierung vom 2. Juli 1947 werden ab 1. Jänner 1948 auch die Angehörigen von Vermißten und Gefangenen Anträge auf Hinterbliebenenrenten einbringen können. Dadurch wird die Zahl dieser Renten natürlich stark anschwellen. Eine vorsichtige Schätzung der in den nächsten drei bis fünf Jahren zu erwartenden Invalidenrenten beläuft sich auf 1 5 0.0 0 0. Sie Jäßt aber noch eine weitere Steigerung erwarten, da Inva-liditätsansprüche noch 10 und 15 Jahre nach Kriegsende erhoben werden können. Einen Überblick über den. Grad der Invalidität gibt uns die Aufschlüsselung der 80.000 nach dem letzten Krieg zuerkannten Renten nach der Versehrtenstufe.

Zur Versehrtenstufe I gehören 35.000

II „ 26.000

„ . ,. HI „ 15 000

IV „ 1.500

Leider fehlt noch vollkommen eine statistische Aufteilung der Kriegsleiden nach medizinischen Fachgebieten. Nach einer unverbindlichen Schätzung entfallen etwa 40 Prozent der Fälle auf chirurgische, 25 Prozent auf interne, 25 Prozent auf Nerven- und je 5 Prozent auf Ohren- und Augenerkrankungen. Nur von einzelnen Sondergruppen haben wir nähere Angaben.

Die Zahl der Amputierten beträgt 12.739, davon sind 1755 Oberarm-, 1203 Unterarm-, 5318 Oberschenkel- und 4463 Unterschenkelamputierte. Die Zahl der Erblindungen beim Ende des ersten Weltkrieges betrug 300; nach dem zweiten zählen wir 401 Blinde, davon sind 95 Prozent schußblind.

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Die Invaliden und Kriegshinterbliebenen schaffen ein eigenes soziales Problem, dessen Lösung eine Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen erfordert. Grundgedanke: dem berufsunfähig gewordenen Versehrten zu helfen, irgendwie wieder in den produktiven Arbeitsprozeß zu gelangen und jenen, welche ihren Lebensunterhalt nur mehr teilweise oder überhaupt nicht mehr selbst bestreiten können, eine entsprechende finanzielle und materielle Unterstützung zu gewähren. Dem ersten Zweck dient die Umschulungsaktion, die, vom Sozialministerium durchgeführt, gegenwärtig ungefähr 1000 Versehrte umfaßt. Dem anderen Zweck sucht man durch Renten sowie durch Bereitstellung von Heil- und Hilfsmitteln gerecht zu werden. Wie bemerkt, bedeutet die Durchführung dieser Maßnahmen eine ungeheure Belastung der Staatsfinanzen. Österreich wird noch im Jahre 1970 rund eine Million Schilling für Kriegsopfer aus dem ersten Weltkrieg zu zahlen haben. Was uns der zweite Weltkrieg schon jetzt an Ausgaben kostet, kann man daraus entnehmen, daß das Budget für das Jahr 1947 unter Kriegs-besdiädigtenfürsorge ^ie Summe von 274,855.800 Schilling vorsieht, um rund 100,000.000 Schilling mehr als im Jahre 1946. Voraussichtlich werden bis zum nächsten Jahr die Auslagen für Kriegsopferrenten so hoch ansteigen, daß auf den Kopf der Bevölkerung eine jährliche Belastung von 100 Schilling fällt. Was könnte mit diesen phantastischen Summen, wären sie mit dem Kriege uns erspart worden, an wirtschaftlicher und kultureller Aufbauarbeit geleistet werden!

Welche Forderungen ergeben rieh aus diesen Tatbeständen?

Sozialmedizinisch erwächst neben der rein ärztlichen Behandlung und Versorgung der Kriegsversehrten die Aufgabe, möglichst bald eine Endbilanz der Gesundheitsschäden des Krieges zu erstellen, damit sie beim Wiederaufbau des Gesundheitswesens entsprechend berücksichtigt werden kann.

In sozialpolitischer Hinsicht verlangt die Situation eine Reihe von Maßnahmen, welche über die derzeitige Kriegsopferbefürsorgung hinausgeht. Durch eine den gegenwrtigen sozialwirtschaftlichen Verhältnissen angepaßte Familienpolitik sollte versucht werden, die kriegsbedingten Bevölkerungslücken allmählich zu schließen. Weiter muß angesichts der Tatsache, daß die Nation auf Jahrzehnte hinaus mit einem hohen Prozentsatz von Versehrten und Leidenden zu rechnen hat, eine Sanierung vom Übel der Erbkrankheiten auf ethisch einwandfreie Weise als •vordringlich ins Auge gefaßt weiden. Die Lehren der 'F.rbbiologie müssen in geeigneter Form in das sittliche Verantwortungsbewußtsein des Volkes eingepflanzt und insbesondere bei der Eheschließung mit berücksichtigt werden. Die Mitwirkung des Staates im Sinne einer entsprechenden Volksaufklärung, Eheberatung und bestimmter sozialhygienischer Maßnahmen ist hiebet unerläßlich.

Sozialethisch ergibt sich folgende Konsequenz:

Die aus der Antike stammende Sentenz, wo-\ nach der Krieg der Vater aller Dinge sei, ist eine Blasphemie und Irrlehre. Der Krieg ist nach modernen Gesichtspunkten der Selbstmord der Völker. Wir können heute nicht einmal mehr sagen: bella gerant alii . .. Denn auch wenn sich die alii oder, wie wir in der Zeitsprache sagen würden, die Alliierten, streiten, kommen die kleinen Nationen, ja schließlich die gesamte Kultur und Zivilisation der Menschheit unter die Räder des Konflikts. Es gibt, sozialethisch gesehen, nur eine Folgerung: die Ächtung des Krieges. Der österreichische Arzt ruft deshalb allen Völkern der Erde zu:

Rüstet zum Frieden!

Die Menschheit wartet darauf!

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