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Oberflächliche Eindrücke legen die Vorstellung nahe, daß die orthodoxe Kirche in Rußland sich in blühendem Zustand befindet. In der Tat, sie existiert noch vierzig Jahre nach der bolschewistischen Revolution. Die Beziehungen zwischen der kirchlichen Hierarchie und der Sowjetregierung sind normalisiert, es gibt 35.000 Priester der orthodoxen Kirche in der Sowjetunion, und man sagt, daß 25.000 Kirchen ihrer sinngemäßen Bestimmung dienen. Aber diese Eindrücke stimmen nicht. Die orthodoxe Kirche mag weiter leben, aber ihre gegenwärtigen Lebensbedingungen kommen ihr nicht zustatten, sie bedrohen sie vielmehr auf die Dauer mit ihrem Verschwinden.

Wie steht es um die Rechte und die Freiheiten der orthodoxen Kirche in der Sowjetunion? Als die erste Sowjetverfassung am 10. Juli 1918 in Kraft trat, garantierte Artikel 13 der Konstitution „Freiheit der religiösen und der antireligiösen Propaganda“. Da die Kirche geschwächt und verarmt war, indes der Einfluß des allmächtigen Staates in Wirklichkeit hinter der antikirchlichen Propaganda stand, wohnte jenem Artikel 13 ein gefährlicher Sinn inne. Am 22. Mai 1922 wurde durch eine Einfügung in die Verfassung das Recht auf die Ausübung religiöser Propaganda abgeschafft und ein neuer Artikel 124 in der Verfassung garantierte nur „die Freiheit der Religionsausübung und die Freiheit der antireligiösen Propaganda“. Mit anderen Worten, dem orthodoxen Klerus war der Gottesdienst erlaubt, nicht aber die Predigt des Evangeliums und die öffentliche Erwiderung auf religionsfeindliche Angriffe. Am 8. April 1929 erschien bereits ein Erlaß, der der kulturellen, sozialen und karitativen Tätigkeit der Kirche ein Ende setzte. Er verbot religiöse Wohltätigkeitsvereine und Sammlungen für soziale Zwecke, er untersagte auch religiöse Unterweisung unter irgendeinem Vorwand zu organisieren. Er traf auch den religiösen Unterricht in staatlichen und privaten Schulen. Dieser Erlaß und der Verfassungsartikel 124 ist bis zum heutigen Tage, soviel bekannt geworden ist, weder eingeschränkt noch verbessert worden. Diese zitierten Bestimmungen definieren die gesetzliche Stellung der Kirche, doch sind partielle Erleichterungen in der Praxis zu verschiedenen Zeiten zugestanden worden, zumal während des Krieges.

Eine Abordnung des englischen Kirchenvolkes, Mitglieder der Gruppe „Christian Action“, die die Sowjetunion im Mai 19*55 besuchte, berichtete bei ihrer Rückkunft, daß die Aktivität der orthodoxen Kirche sowie anderer Kirchengemeinschaften in der Sowjetunion auf das Abhalten des Gottesdienstes beschränkt sei. Sie sei nicht imstande, in Erziehung und sozialen Werken zu wirken („Manchester Guardian“, 18. Mai 1955). Die Sowjetregierung hat eine Veröffentlichung einer neuen Bibelübersetzung autorisiert, die aber nur in einer Auflage von 10.000 Exemplaren herauskam; dafür ist 1954 ein Band von Jack London in einer Auflage von 145.000 erschienen.

Die englische Delegation berichtete von menschenerfüllten Kirchen in Moskau, viele von den Gläubigen seien zehn Meilen weit zu Fuß gekommen, um dem Gottesdienst beizuwohnen. Aber es wird beigefügt, daß 41 Kirchen dem öffentlichen Zutritt in Moskau offenstehen, einer Stadt von 6 Millionen Einwohnern, von denen zwei Drittel gläubige Christen sein sollen. Viel mehr Kirchen als offenstehen sind gesperrt oder in Museen verwandelt. Während die Kirche gehemmt ist in Wort und Tat, benützt der Staat alle Mittel der offiziellen Propaganda, um die Menschen von der Religionsausübung abzuhalten und ihr religiöses Leben auszulöschen.

Die antireligiöse Kampagne hat niemals aufgehört, obwohl sie verschiedentlich in ihrer Intensität sich veränderte. Seit Anfang 1954 hat sie sich verstärkt. Im Jänner 1954 wurde verlaut-bart, daß das Museum für Religionsgeschichte in Leningrad, das während des Krieges geschlossen worden war, ebenso wie andere antireligiöse Museen wieder eröffnet worden sind; eine Filiale des Museums soll in Lemberg eingerichtet werden, wie auch Wanderausstellungen zum Besuch von Kollektivfarmen organisiert werden. Am U. November 1954 publizierte die „Prawda“ einen langen Erlaß, der sich mit der antireligiösen Propaganda befaßte, unterzeichnet von Chruschtschow, dem Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei. Eine derart autoritative Verlautbarung zu dem behandelten Thema ist seit Jahren nicht erfolgt. Der Erlaß verlangte, daß mehr Takt und Geschick in der Propaganda gegen die Religion gezeigt werden sollte, in keiner Weise handle es sich darum, die Propaganda zu vermindern, im Gegenteil, die Partei „hält es für wesentlich, eine profunde, systematische wissenschaftlich-atheistische Propaganda zu unterhalten“. Die Moskauer Zeitschrift „Probleme der Philosophie“, Nr. 6 vom Dezember 1954, brachte einen Aufsatz aus der Feder des alten antireligiösen Propagandisten F. N. Oleschuk, der mit Beziehung auf den Erlaß die Politik der Sowjetregierung gegenüber der Religion erläuterte. „Taktische Konzessionen seien erforderlich, die antireligiöse Propaganda muß dem Zweck und den Aufgaben angepaßt sein, die zu einer gegebenen Zeit erfüllt werden müssen. Der Marx-Leninismus ist begriffen in einem unversöhnlichen Kampf gegen die Religion, er hat ihn immer geführt und wird ihn immer führen.“

In Moskau ist man offenbar überzeugt, daß bei den bestehenden Lebensbedingungen der Orthodoxie einmal Religion und orthodoxe Kirche verschwinden werden. Aber die Kirche ist von einem gewissen Nutzen für den Staat, sie unterstützt die auswärtige Politik der Sowjets. Dafür ist ihr eine begrenzte Existenz erlaubt, freilich eine, die als eine zeitlich beschränkte gedacht ist.

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