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„Organische“ Demokratie

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Die Gemeindewahlen in den 9000 Dörfern und Städten Spaniens, bei denen die Hälfte der Ratssitze neu besetzt wurden, mit Ausnahme Madrids, wo eine Totalemeuerung stattfand, sind vorüber. Sie endeten — wer hätte das gedacht! — mit einem Sieg der Regimetreuen, nach aufregendem Wahlkampf, bei dem die Begeisterung der Wähler und die Klarheit der Ansichten der Kandidaten offen zutage traten.

Zeitgemäß

Spanien ist, wie jeder weiß, eine Demokratie, noch dazu eine „organische“, im Gegensatz zu der „anorganischen“, also unnatürlichen unsrigen. Diese organische Demokratie stützt sich nicht auf die widernatürlichen Parteien, sondern auf die „gewachsenen“ Grundstämme der menschlichen Gesellschaft: Familie, Gemeinde, Berufsgemeinschaft. Darnach wird gewählt. In die Gemeinderäte wählen getrennt:

1. die Familienoberhäupter beiderlei Geschlechts über 21 (in Madrid 600.000 von zwei Millionen Einwohnern), auch Analphabeten;

2. die Vertreter der staatlichen, Arbeiter und Unternehmer zusammenschließenden Einheitssyndikate;

3. die Standesorganisationen (zum Beispiel Ärztekollegium). Das spanische Gesellschaftssystem hat also einen stark ständestaatlichen Einschlag.

In Gruppe eins wählt man direkt, in der zweiten über Wahlmänner, in der dritten scheinen — wenn wir das System richtig erfaßt haben — zuerst Wahlmänner andere Wahlmänner zu wählen, aber was dann geschieht, weiß niemand genau. So einfach ist das. Bemerkenswert ist auch der rhythmische Wahlzyklus in Madrid. Hier fanden die letzten

Gemeindewahlen vor zehn, die vorletzten vor dreizehn Jahren statt. Und sogar die Bürgermeister und Stadtpräsidenten werden gewählt, nämlich vom Provinzgouverneur oder vom Innenminister. Organischdemokratischer geht es nicht mehr!

Anregend wirkt auch die Nominierung der Kandidaten: Im „Familiendrittel“ kann sich eigentlich jedermann selbst vorschlagen. Wer besonders demokratisch ist, läßt sich von Tante, Onkel und ein paar Freunden portieren. Natürlich bedarf der Wahlwerber noch der Genehmigung des Provinzgouverneurs und der Empfehlung durch abtretende Ratsherren. Aber letzteres

Wahldampf in allen Gassen

Wie die Auslese im „Syndikats- und Standesdrittel“ vor sich geht, das zu erforschen, ist künftigen Generationen vorbehalten. Eine Madrider Zeitung stellte jedenfalls am Vorabend der Wahlen fest, daß ihr

läßt sich leicht erreichen. Zu einem in Madrid jedermann bekannten Publizisten kam ein junger Mann, der gerne Wahlkandidat werden wollte.' „Was kann ich denn dazu tun?“ fragte der um Hilfe Angegangene. „Alles. Nämlich eine Empfehlung an ein paar Räte ausstellen, damit sie mich der Wahlkommission empfehlen.“ Der Schriftsteller, viel zu beschäftigt, um sich die Pläne des Kandidatenanwärters anzuhören, fand diesen sympathisch, was in Spanien als Karrieregrundlage genügt, gab die Empfehlung, die Räte, die den jungen Mann noch nie im Leben gesehen hatten, gaben die ihre — und so ward er Kandidat.

nicht einmal die Namen der Wahlmänner der Syndikate mitgeteilt wurde, denen es obliegt, einen Teil der künftigen Stadtväter zu küren!

Den Umständen entsprechend lebhaft war der Wahlkampf. An

fangs schien es, als ob er unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden sollte. Dann aber begannen die Zeitungen, Bilder und kurze programmatische Erklärungen der Kandidaten — die, außer ihrer engsten Umgebung, kein Mensch kennt — zu veröffentlichen. Dl fanden sich denn so markige Kernsätze wie: „In meinem Wahlkreis gibt es große und kleine Probleme. Ich könnte sie ja aufzählen, aber ich ziehe es vor, sie im Dialog mit meinen Wählern, wenn ich gewählt werden sollte, zu ventilieren.“ Zum Schluß sah man sogar Autokolonnen durch die Stadt fahren, die Wagen bedeckt mit Wahlplakaten, über einen Lautsprecher wurde der Name eines bisher Unbekannten gebrüllt und auf mit sparsamen Händen gestreuten Flugzetteln las man: „Wählt XY — für ein modernes Madrid“. Ähnlich ging es in den anderen Städten zu, und nur in den kleinen Dörfern, wo jeder jeden kennt, hatte die Familienwahl Sinn.

Superdemokraten schwangen sich gar zu Wahlversammlungen in Gasthäusern auf, die ganze sechs Stunden vor Stattfinden der Wahl einberufen wurden. Es erschienen natürlich der Familienclan und Zufallsgäste, die auf Freibier hofften. Die Redner sprachen dem Volk aus der Seele: Zu wenig Autobusse, schlechtes Straßenpflaster, veraltete Taxis und so weiter. All dem müsse abgeholfen werden. Ob das dazu nötige Geld vorhanden ist, vermochten die Wahlwerber nicht zu sagen, sie wußten erst seit kurzer Zeit, daß sie als Kandidaten genehm waren.

Am Wahltag selbst war alles ruhig, Hämische meinen: indifferent. Daß es in den Wahllokalen keine Stimmzellen gab, merkten ohnedies nur die paar ausländischen Beobachter. Die Beteiligung betrug 40 bis 80 Prozent, zur Stimmabgabe verpflichtet waren bloß die öffentlichen Angestellten, die bei der nächsten Gehaltsauszahlung eine Bestätigung über die Ausübung ihres Bürgerrechtes vorzulegen haben. Zum erstenmal wählte auch Generalissimus Franco, im Register eingetragen als Exzellenz Francisco Franco Bahamonde, von Beruf Staatschef.

Bastarde

Immerhin drohte die organische Wahl in eine anorganische auszuarten, wäre das Auge der Obrigkeit nięht stets wach. So konnte man verhindern, daß einige monarchistischer Umtriebe Verdächtige ihre Kandidatur beibehielten. Knapp vor den Wahlen hielt der Innenminister, ein General, noch eine zügige Ansprache: „Die Gemeindeversammlungen können nicht das Schlachtfeld für Lokalparteien sein. Noch weniger dürfen sie zum Festplatz für zersetzende politische Kräfte oder zur Plattform für bastardische Interessen werden!“ Gefährliche Verschwörungen scheinen da bestanden zu haben, von denen der harmlose Bürger mit der Schlafmütze gar nichts ahnte. Ob Fidel Castro oder BenBella gar nicht auszudenken.

Trotz soviel väterlicher Vorsorge waren Wähler und Presse nicht zufrieden. Sie meckerten und raunzten. Gar zu gerne hätten sie gewußt, wer die Leute sind, denen sie ihre Stimmen geben sollten, und was sie für konkrete Programme haben. Die Kurzbiographien und die Blitzerklärungen genügten diesen Anspruchsvollen nicht. Ein Blatt schrieb, daß Wahlfreiheit ja konkrete Angaben und Vergleichsmöglichkeiten voraussetze und daß es mit „seinen (kritischen) Bemerkungen die Bestürzung nicht weniger Wähler ausdrücke“. Daß diese Kritik die Zensur passieren konnte, ist das Erfreulichste an den Wahlen; zu meinen, sie habe Erfolg gehabt, wäre vermessen. So sagte uns ein sehr hoher Herr: „Auf der ganzen Welt suchen die Regierenden nach einer Demokratie, bei der das Volk nichts mitzureden hat. Wir haben sie gefunden.“

Dem Gast aus den unnatürlichen Demokratien werden hier oft die Unvollkommenheiten und Reformbedürftigkeit unserer Staatssysteme streng vorgehalten. Wem sagen die Organiker das! Aber wenn man so die Probe aufs Exempel macht — fast möchte man ausrufen: Wir Widernatürlichen sind doch bessere Menschen!

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