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Qu. e. d.

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Der praktische Wert geschichtlicher Rückblicke ist gleich ihrer Nutzanwendung auf Gegenwart und Zukunft, da diese Nutzanwendung aber, wie die Geschichte lehrt, meist unterbleibt, gleich Null.

Auf der Pariser Friedenskonferenz werden die einzelnen Staaten heute in drei Kategorien eingeteilt: die erste dieser Kategorien bilden die siegreichen „Vereinten Nationen“; die zweite — zu der Österreich gehört — die befreiten Länder; und schließlich die dritte, die Besiegten, die sogenannten „Satelliten-Staaten“. So einfach und einleuchtend diese Einteilung auch erscheinen mag, so schwer ist es andererseits — wenigstens, was die europäischen Länder anbelangt —, haarscharfe Grenzen zwischen den einzelnen Kategorien zu ziehen. Schon deshalb, weil mehrere dieser Staaten beim Herannahen der Kriegsfront — manche sogar zweimal — auch ihre politische Front wechselten, also sozusagen zeitlich nacheinander in verschiedene, ja einander entgegengesetzte Kategorien fallen. Und vor allem, weil alle hier in Betracht kommenden Länder — mit der einzigen Ausnahme Englands — außer in die ihnen zugesprochene, eigentlich auch noch in die zweite Kategorie: in die der befreiten Nationen, gehören würden, denn jedes einzelne unter ihnen wurde einmal von Hitler besetzt.

Schon die Tatsache dieser Besetzung aber sollte zu denken geben. Jedenfalls erscheint sie keineswegs dazu angetan, die Annahme einer hundertprozentigen „Kollaboration“ der betreffenden Länder zu stützen: wäre dem so, wäre ja eine gewaltsame Besetzung offenbar nicht nötig gewesen.

Beschränken wir unsere Betrachtungen auf die Staaten Mitteleuropas, so erhalten wir folgendes Bild: 1. Kategorie (Siegerstaaten): Tschechoslowakei und Jugoslawien. 2. Kategorie (befreite Staaten): Österreich. 3. Kategorie (Satelliten-Staaten): Ungarn und Rumänien.

Zeitlich erfolgte die Besetzung der genannten Länder durch Nazi-Deutsdiland in folgender Reihenfolge: 1. Österreich, 2. Böhmen und Mähren, während die Slowakei bekanntlich ihre „Selbständigkeit“ erhielt. 3. Rumänien. 4. Serbien, während Kroatien, ähnlich der Slowakei und unter den gleidien kennzeichnenden Anführungszeichen, „selbständig“ wurde. Und schließlich 5. Ungarn.

Es ist nun nicht uninteressant, das Verhalten der einzelnen, hier genannten Länder anläßlich der Besetzung ihrer Nachbarn zu untersuchen. Tatsächlich wirkte die Besetzung Österreichs auf die umliegenden Völker wie ein elektrischer Schlag: sie fühlten instinktiv die ihnen selbst drohende Gefahr. Die offizielle Stellungnahme ihrer Regierungen aber brachte diesen gefühlsmäßigen Protest weit weniger temperamentvoll zum Ausdruck. Im allgemeinen duckte man sich, solange es ging, und freute sich im stillen, daß es nur dem Nachbarn galt. Das gleiche gilt von den weiteren Okkupationen: wo es ging, trachtete man aus dem Unglück des andern noch einen kleinen Vorteil für sich herauszuschlagen. Nur über die Besetzung Ungarns (19. März 1944) freute sich niemand mehr: einfach, weil keiner mehr da war, der sich hätte freuen können.

Diese knappen historischen Feststellungen haben mit Kritik nichts zu tun. Ebensowenig die weitere, daß sich in Österreich ein Seyß-Inquart, in der Tschechoslowakei unter anderen ein Moravec und ein Tiso, in Jugoslawien ein Nedic, in Rumänien ein Antonescu und in Ungarn ein Szalassi fand, demnach ein jedes dieser Länder ohne Ausnahme seinen Quisling besaß, wie freilich andererseits auch jede dieser Nationen mit vollem Recht auf einen Schuschnigg, auf die Märtyrer von Lidice, auf einen Groza, einen Tito und einen Teleki hinweisen kann.

Wenn sich überhaupt ein gültiger Schluß aus diesen unzweifelhaften Tatsachen ziehen läßt, so offenbar nur der, daß kleine Länder es eben schwerer haben als große, ohne Hilfe von außen ihre Unabhängigkeit zu verteidigen, es sei denn, si schlössen sich zu gemeinsamer Abwehr zusammen. Denn jedenfalls hätte es Hitler wesentlich schwerer gehabt, wenn er es mit der Summe all der genannten Länder, statt mit deren einzelnen Summanden zu tun gehabt hätte, die er einen nach dem andern mühelos annullierte.

So gesehen, erscheint die heutige Einteilung der mitteleuropäischen Staaten in die drei genannten Kategorien allerdings in einem wesentlidi anderen Lichte. Jedenfalls aber spricht die Tatsache, daß ihre jeweiligen Vertreter auf der Pariser Konferenz heute vielfach wieder eher dazu neigen, den anderen der „Kollaboration“ zu zeihen, während sie selber ihre Hände in Unschuld waschen, kaum dafür, daß sie aus der Geschichte der Jüngstvergangenheit die erforderlichen Nutzanwendungen zu ziehen bereit wären.

Quod erat demonstrandum; zu deutsch: was zu beweisen war.

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