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VON NEUEN BÜCHERN

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Briefe zum Tode Verurteilter der europäischen Widerstandsbewegung (Lettere di condannati a morte deila Resistenza europea). Mit einem Vorwort von Thomas Mann. Herausgegeben von Piero Malvezzi und Giovanni Pirelli. Verlag Giulio Einaudi, Turin. 704 Seiten. Preis 2000 Lire

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Briefe zum Tode Verurteilter der europäischen Widerstandsbewegung (Lettere di condannati a morte deila Resistenza europea). Mit einem Vorwort von Thomas Mann. Herausgegeben von Piero Malvezzi und Giovanni Pirelli. Verlag Giulio Einaudi, Turin. 704 Seiten. Preis 2000 Lire

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Es ist kein gewöhnliches Ereignis, daß ein neues Buch der Oeffentlichkeit im Rahmen eines feierlichen Aktes übergeben wird, in Anwesenheit des Staatsoberhauptes und des diplomatischen Korps. Dies geschah kürzlich in Rom, als Staatspräsident Luigi Einaudi, ein Mann von liberal-monarchischen Tendenzen, den das Schicksal zum ersten erwählten Präsidenten der italienischen Republik gemacht hat, der Präsentierung eines Sammelwerkes von Briefen zum Tode Verurteilter der europäischen Widerstandsbewegung beiwohnte. Da der greise Präsident seine offiziellen Pflichten stets von den privaten zu trennen gewußt hat, können zur Erklärung auch nicht die verwandtschaftlichen Bindungen herangezogen werden, die er zu dem Verlagsinhaber hat. Der junge Turiner Verleger

Giulio Einaudi, sein Sohn, ist nicht das geringste unter den Mitgliedern der kommunistischen Partei Italiens, was sich auch in seiner verlegerischen Tätigkeit ausdrückt. Aber Thomas Mann, der zu dem Werk das Vorwort geschrieben hat, bezeichnet es darin als ein Monument für die Gefallenen der „résistance” und Einaudi begab sich als Präsident zur Enthüllung dieses Denkmals aus Papier und Druckerschwärze, das so viel eindringlicher als Marmor und Bronze zu uns spricht.

Dabei handelt es sich um eine durchaus private

Initiative, ohne offiziellen Auftrag, um eine Fortsetzung des vor zwei Jahren erschienenen Werkes „Lettere di condannati a morte délia resistenza italiana". In mühevollster Arbeit und nach beinahe wissenschaftlichen textkritischen Studien wurden diese Hunderte von Briefen gesammelt, die Angehörige aus lé Nationen in den letzten Tagen oder Stunden, oft in den letzten Minuten ihres Daseins geschrieben oder an die Wände ihrer Gefängniszellen geritzt haben, bevor sie den Gang zum Schafott antraten. Es fehlen Briefe von Albanesen und Rumänen, die einzigen Nationen, die ihre Mitwirkung versagt haben; auch die Amerikaner, Schweizer, Ungarn und Spanier sind spärlich vertreten. Um so reicher war die grausige Ernte unter den Franzosen, Deutschen und Skandinaviern. Nur wenige Länder verfügen über eine Bibliographie der Widerstandsbewegung. Die Tätigkeit der Herausgeber glich somit eher der Arbeit Mitleidvoller, die von den Schlachtfeldern die Leichen der Gefallenen sammeln.

Wir wollen nicht den Verlag dafür verantwortlich machen, daß der Geist der Versöhnung, zu dem die Synthese des Buches führt und führen will, bei manchen Ländern durch eine allzu offensichtliche einseitige Auswahl der bewegendsten aller menschlichen Dokumente beeinträchtigt wird. Dies ist bei Deutschland und Holland nicht der Fall, bei den Ländern, die heute von einem kommunistischen Regime beherrscht werden, ist sie verständlich. Wenn jedoch von den zwölf Opfernder österreichischen Widerstandsbewegung, die in dem Buch Aufnahme gefunden haben, elf dem kommunistischen Aktivismus angehören und die politische Zugehörigkeit des zwölften, Albrecht Stanek, unklar bleibt, so kann bei Lesern, denen eine genauere Kenntnis der Verhältnisse nicht zugemutet werden darf, der irrige Eindruck entstehen, daß die Widerstandsbewegung in Oesterreich ein Monopol des Kommunismus war. Dies würde nicht nur ein Unrecht gegenüber dem Geist des Buches sein, sondern mehr noch gegenüber dem Beitrag anderer Kräfte, wie etwa der katholischen Widerstandsbewegung, die zum Beispiel auch Angehörige der Gesellschaft Jesu unter ihren Märtyrern zählt. Die Herausgeber erwähnen am Rande, daß die Angaben vom Bundesverband Oesterreichischer Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus geliefert wurden, während die Nachforschungen bei den Organisationen anderer politischer Färb? ohneErgebnis geblieben sein sollen.

Der Lektüre des Buches tut dies freilich keinen Abbruch. Unbeschadet seiner Dramatik haftet ihm eine seltene Würde an, wie an allen menschlichen Zeugnissen hoher moralischer Kraft. Aus den letzten Aeußerungen von Menschen, die ohne Zaudern bereit sind, ihr Leben einer Idee hinzugeben, weht ein versöhnlicher, friedensbereiter Geist, der alle Nationen und Rassen umfassen will, man möchte sagen ein europäischer Geist, der, aus der Asche des gigantischen Schmelztiegels Europa 1939 bis 1945 aufsteigend, die Atmosphäre einer neuen, besseren Welt durchdringen soll. Kein Wort des Fluchs, kein Rachewunsch in diesen Briefen. In ihren letzten Stunden fließt den Todgeweihten nur noch Liebe aus der Feder, zu den nächsten Verwandten und Freunden, zur Heimat, zur Freiheit, zu Gott.

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