Rettende Zugfahrt ins Ungewisse

19451960198020002020

Ausgehend von der Geschichte ihrer Mutter Ruth Morley erzählt Melissa Hacker erstmals die berührende Geschichte der sogenannten Kindertransporte als Dokumentarfilm. Die Regisseurin hat den Film Wiener Schülerinnen und Schülern gezeigt und mit ihnen diskutiert.

19451960198020002020

Ausgehend von der Geschichte ihrer Mutter Ruth Morley erzählt Melissa Hacker erstmals die berührende Geschichte der sogenannten Kindertransporte als Dokumentarfilm. Die Regisseurin hat den Film Wiener Schülerinnen und Schülern gezeigt und mit ihnen diskutiert.

Werbung
Werbung
Werbung

Ich erinnere mich, aus dem Fenster gesehen und meinen Eltern und meiner Gouvernante zum Abschied gewinkt zu haben. Erst viel später wurde mir klar, dass das möglicherweise das letzte Mal war, dass ich sie gesehen hatte." Das sind die ersten Worte Ruth Morleys im Dokumentarfilm "My knees were jumping - Remembering the Kindertransports". Die Regisseurin des Films, Melissa Hacker, ist Ruth Morleys Tochter. In ihrer Dokumentation erzählt sie vom Schicksal ihrer 1991 verstorbenen Mutter, die noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs durch einen der sogenannten Kindertransporte in Sicherheit gebracht wurde.

Ruth Morley fährt im Film, ruhig und gefasst, mit ihrer Erzählung fort: "Ich habe diese schreckliche Erinnerung daran, dass meine Gouvernante mir meine Tarot-Karten legte, bevor ich nach England aufbrach. Meine Gouvernante war sehr spirituell und besorgte sich jedes Jahr ein Horoskop. Sie war entsetzt davon, was sie in den Karten sah. Diese Erinnerung begleitet mich schon mein ganzes Leben lang. Ich weiß, dass meine Gouvernante damals dachte, sie würde mich nie wieder sehen." Die Gouvernante hatte sich geirrt, denn Ruth Morley überlebte den Krieg. In all dem Unglück hatte sie doch doppeltes Glück: Sie konnte nach England ausreisen und wurde mit ihrer Familie schon ein Jahr später in den USA wiedervereint. Morley blieb nach Kriegsende in New York, war jahrelang als Kostümdesignerin am Broadway tätig und gründete schließlich eine Familie. 1991 starb sie an Brustkrebs.

Im selben Alter, aber in einer anderen Welt

Über 20 Jahre nach ihrem Tod ist ihre Tochter Melissa Hacker in Wien zu Besuch und präsentiert mehreren Schulklassen im Salon BeLLeArTi ihren Film. Die Schülerinnen und Schüler sind zwischen zwölf und dreizehn Jahren alt - im selben Alter wie Ruth Morley, als sie Österreich verließ. Ihre Tochter Melissa Hacker trägt eine große Brille, genau wie auf den Fotos und Filmaufnahmen, die während der Dokumentation gezeigt wurden. Ihre Ähnlichkeit mit Ruth Morley ist unverkennbar.

"Ist Ihre Mutter noch am Leben?", fragt ein neugieriger Schüler. Melissa verneint, betont aber: "Ich bin sehr froh, dass ich mit ihr über all die Geschehnisse reden konnte. Als ich in Eurem Alter war, war ich nicht wirklich an der Kindheit meiner Eltern interessiert. Wie viele von Euch fragen die eigenen Eltern denn schon danach, was sie als Kinder durchgemacht haben?" Eine weitere Hand schießt in die Höhe. "Wann entschieden Sie sich dazu, die Dokumentation zu drehen?", fragt ein Mädchen. Melissa Hacker beginnt zu erzählen: "Ich verließ das College und wusste nicht wirklich, was ich machen sollte. Schließlich stellte ich fest, dass ich gerne Filme produziere. Ich besuchte also einen Filmkurs. Ich entschied mich, einen Kurzfilm über meine Mutter zu machen. Sie hatte einen Akzent, sie war anders als die Mütter meiner Freunde, das wusste ich. Aber als ich mit dem Film begann, hatte ich keine Ahnung von den Kindertransporten. Als ich von ihnen erfuhr, beschloss ich, auch über sie zu berichten." Ganze acht Jahre brauchte Hacker, bis die Dokumentation fertiggestellt war.

Sie erzählt den Jugendlichen, dass die Einwanderungsbestimmungen zahlreicher Länder damals sehr streng waren. Viele Juden konnten trotz Verfolgung in ihrer Heimat nicht aus Österreich, Deutschland, der Tschechoslowakei und Polen fliehen. Nach der "Kristallnacht" 1938 erklärte sich Großbritannien aber dazu bereit, jüdische Kinder aufzunehmen. Zahlreiche Eltern ließen ihre Kinder schweren Herzens gehen, um wenigstens sie in Sicherheit zu bringen. Die Kindertransporte wurden schon ein Jahr später offiziell eingestellt. Einige Schülerinnen und Schüler wollen noch mehr über Melissa Hackers Mutter erfahren. Die Regisseurin berichtet ausführlich darüber, dass ihre Mutter Ruth große Angst hatte, alleine nach England zu reisen. Sie wusste schließlich nicht, ob sie ihre Eltern je wiedersehen würde. "Sie war deswegen sehr traurig und sprach noch dazu kaum Englisch. Nachdem sie innerhalb von zwei Monaten bei etwa acht verschiedenen Familien untergekommen war, weil sie ständig weinte und sie daher keiner behalten wollte, fand sie endlich eine passende Familie. Diese Familie liebte meine Mutter sehr, und meine Mutter liebte sie ebenfalls. Ich bin heute noch mit der Familie in Kontakt."

Schlimme Schicksale

Nicht alle Kinder, die durch die Kindertransporte ins Ausland gebracht wurden, hatten allerdings das Glück, ihre Eltern wiederzusehen. Die meisten Kinder wurden durch den Krieg Waisen. In Hackers Film kommen auch andere Betroffene zu Wort. Erika Estis etwa erzählt, was ihr von ihrer alten Heimat Hamburg in Erinnerung geblieben ist: "Nachdem Hitler an die Macht gekommen war, sprachen die anderen Kinder nicht mehr mit mir. Sie warfen Steine nach mir und beschimpften mich." Erika Estis spricht Englisch, aber einen Spruch kann sie bis heute in fehlerfreiem Deutsch zitieren. Sie lacht dabei, aber es ist kein fröhliches Lachen. Fast wirkt es so, als ob sie lache, um dadurch die immer noch tief sitzende Kränkung der damaligen Demütigungen verstecken zu wollen. "Marzipan ist ungesund, Jude ist ein Schweinehund" - so endet der Reim, mit dem ihre Mitschüler sie und andere jüdische Kinder ärgerten.

Später im Film zeigt Erika Estis die letzten Briefe ihrer Eltern an sie. Einen Brief von ihrem Vater liest sie sogar vor. In diesem schrieb der Vater, dass er oft daran dachte, wie schön es wäre, wenn die Familie wieder zusammen sein könnte. "Es ist schwer, das zu lesen", sagt Erika Estis kopfschüttelnd. Denn weder ihr Vater noch ihre Mutter überlebten den Krieg.

Eine weitere Holocaust-Überlebende kann sich noch gut an den Abschied von ihrem Vater erinnern. "Don't take my baby!", rief er verzweifelt, als der Zug, in dem sich seine Tochter befand, langsam losfuhr. Es war bereits zu spät, um das Kind wieder aussteigen zu lassen. Die Frau überlebte den Krieg, ihren Vater und ihre Mutter sollte auch sie nie wieder sehen.

Originalaufnahmen der Abreise zeigen die ahnungslosen, teilweise sogar von Vorfreude geprägten Gesichter der Kinder, die glaubten, in ein Abenteuer zu fahren. Daneben die Eltern, die angespannt, um Beherrschung bemüht und doch von Schmerz gezeichnet sind. Die meisten Überlebenden schildern, dass sie in England das Gefühl hatten, man hätte ihnen ihre Kindheit zurückgegeben. Viele haben durchaus positive Erinnerungen an die Zeit in England, doch der Abschied von ihren Familien und ihren früheren Leben fiel allen schwer. Schuldgefühle, weil sie vom Krieg selbst nicht allzu viel mitbekamen und ihn im Ausland überlebten, plagen einige bis heute. Auch Eltern kommen in der Dokumentation zu Wort und sprechen darüber, wie schrecklich es für sie war, ihre Kinder alleine in die unbekannte Ferne zu schicken. Außerdem wird Filmmaterial gezeigt, in dem Melissa Hacker sich mit anderen Leuten austauscht, deren Eltern ebenfalls durch die Kindertransporte in Sicherheit gebracht wurden. Es stellt sich heraus, dass das Schicksal der Eltern die Kinder häufig beeinflusste -obwohl viele lange Zeit gar nichts von den Kindertransporten wussten. Albträume, zum Teil von Zügen, plagten nicht wenige.

Erinnerungen und Verschweigen

Der hauptsächliche Fokus der Dokumentation liegt auf Ruth Morley, auf ihren Erinnerungen und ihrem Verschweigen der Erlebnisse den Töchtern gegenüber. Im Laufe des Filmdrehs lernt Melissa Hacker die Kindheitsgeschichte ihrer Mutter kennen und erfährt immer mehr Fakten und Details über die Kindertransporte. Der Film ist bedrückend, zeigt aber auch, wie dankbar die Überlebenden ihren Eltern noch heute dafür sind, dass sie sie gehen ließen und ihnen so ein Weiterleben ermöglichten. "Eine selbstlose Entscheidung der Eltern" - so nennt es eine Frau. Neben zahlreichen Originalfotos und -videos, Interviews und Filmmaterial von Treffen der damals betroffenen Kinder, werden auch Reden gezeigt, die die Überlebenden im Rahmen von Veranstaltungen der "kindertransport association" hielten.

Nach dem Gespräch mit Regisseurin Melissa Hacker applaudieren die Schülerinnen und Schüler der Filmemacherin. Trotz der Betroffenheit nehmen die Zwölf-und Dreizehnjährigen rasch wieder ihre unbekümmerten Gespräche auf. Fast achtzig Jahre sind seit den Kindertransporten vergangen, eine unfassbar lange Zeit für die Heranwachsenden. Die Geschehnisse von damals sind für die Jugendlichen heute Geschichte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung