Geschichten aus einer vergangenen Zeit

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"Wenn ein alter Mensch stirbt, dann verbrennt eine ganze Bibliothek". Unter diesem Motto steht ein österreichisches Film-Projekt, das die Erinnerungen und Erfahrungen von Menschen aus der Zeit der Donaumonarchie festhält.

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"Wenn ein alter Mensch stirbt, dann verbrennt eine ganze Bibliothek". Unter diesem Motto steht ein österreichisches Film-Projekt, das die Erinnerungen und Erfahrungen von Menschen aus der Zeit der Donaumonarchie festhält.

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Können Sie sich noch an Ihre Großeltern erinnern? Haben Sie ihren Geschichten gelauscht, als Sie noch ein Kind waren, den Erzählungen von ihrer Kindheit in der "guten alten Zeit", in einer fernen anderen Welt ... und sehnen Sie sich manchmal nach ihren Geschichten?

1999 wurde von der UNO zum "Internationalen Jahr der Senioren" ausgerufen. Erinnerungen und Erfahrungen der Ältesten stehen auch im Mittelpunkt des Österreichischen Film TageBuchs, einer Initiative, die Zeitgeschichte dokumentieren und in einem Visual History-Archiv sammeln will. Verschiedene Themenbereiche österreichischer Identität sollen erfaßt werden.

Im 1. Kapitel "Die Chronisten" erzählen Zeitzeugen der Donaumonarchie, im wahrsten Sinne des Wortes Alt-Österreicher. Einige von ihnen stammen aus Ungarn, Böhmen oder anderen Regionen Mittel- und Osteuropas, die einmal zu Österreich gehörten, und haben eine bewegte Vergangenheit durch historische Umwälzungen bedingter Migration. Sie erinnern sich an eine Kindheit, die bereits (fast) ein ganzes Jahrhundert zurückliegt und offenbaren in ihren Erzählungen ein Stück lebendiger Geschichte. "Wenn ein alter Mensch stirbt, dann verbrennt eine ganze Bibliothek" steht dem Projekt als Motto voran.

Ganz allgemein war in den letzten Jahren eine gesteigerte Nachfrage nach "persönlicher" Vergangenheit festzustellen. Memoiren, Autobiographien und Biographien, Texte mit persönlichem Hintergrund und Authentizitätsanspruch erfreuen sich immer größerer Beliebtheit, sie finden stets neue Leser und Schreiber. Der Versuch, Erinnerung festzuhalten, Menschen durch die Pflege ihres Andenkens dem Vergessenwerden zu entreißen, ein Stück Geschichte zu archivieren und zu konsumieren, all das übt ungebrochene Faszination aus.

Kollektive Ahnen

Aber nicht jeder findet seinen persönlichen Biographen oder hat Talent, Zeit, Energie und Interesse, seine Erinnerungen, sein ganz persönliches Stück Geschichte in Worte zu fassen und niederzuschreiben - und viele haben nicht mehr die Möglichkeit, ihren Großeltern zuzuhören.

Ruth Deutschmann, die Leiterin des Projekts, hat nun eine Reihe von Zeitzeugen um sich versammelt, interviewt und gefilmt, die uns wie unsere "kollektiven Ahnen" an ihrer Vergangenheit, ihren Erinnerungen und Erzählungen teilhaben lassen.

Da gibt es etwa Elisabeth Biborosch, geboren 1900 in Györ als Tochter eines k.u.k. Offiziers. Die Familie folgte dem Regiment des Vaters kreuz und quer durch die Monarchie, von Ungarn nach Böhmen, wo die Tochter von Straßenkindern Tschechisch und viele praktische Dinge über die Welt lernte, was sie heute noch sehr lebendig und witzig zu schildern weiß; von dort ging es über Bosnien-Herzegowina nach Salzburg, Graz und Wien.

Oder Lorle Schinnerer, die Tochter des k.u.k. Oberpostdirektors, geboren 1906 in Konstantinopel, aufgewachsen in großbürgerlichem Haus schildert ihre glücklich wohlbehütete Kindheit: ihre Welt sei heil gewesen. Und ihr Elternhaus und ihre Erziehung haben ihr die Kraft gegeben, spätere Schicksalsschläge zu meistern.

Für andere sah das Leben weniger rosig aus. Kuhmägde erzählen ganz ohne Groll von ihren Entbehrungen, die sie auch heute noch als ganz selbstverständlich hinzunehmen scheinen, Landwirtinnen erinnern sich an harte Arbeit, die natürlich ganz aus eigener Kraft erledigt werden mußte, eine Wäscherin berichtet von ihrem Arbeitsaensten Gegenden und Berufsgruppen kommen in ihren jeweiligen Dialekten zu Wort, dadurch wird die Dokumentation auch akustisch abwechslungsreich.

Meist sind es Frauen, die erzählen, aber auch einige immer noch rüstige Männer lassen uns teilhaben an ihren Erlebnissen.

Etwa der 105jährige und immer noch glücklich verheiratete ehemalige Kaufmann Willi Ehrenreich, der sich mit Tennis spielen fit hält und gern von seiner Jugend plaudert, oder Universitätsprofessor Leopold Vietoris aus Radkersburg in der Steiermark, dem man seine 107 Jahre absolut nicht ansieht.

105 Jahre glücklich

Abgesehen davon, daß sie ihre Erinnerungen mit uns teilen, zeigen uns diese Chronisten auch, daß das Leben bis ins hohe Alter lebenswert sein kann.

Manche der "Chronisten" seien geradezu aufgeblüht bei der Wieder- und Weitergabe der Erinnerungen ihrer Kindheit und Jugend, erzählt Ruth Deutschmann begeistert von den Dreharbeiten. Sie habe diese Menschen kennen und lieben gelernt bei ihren Besuchen, und jene hätten es genossen, interessierte Zuhörer zu finden. Einige unter ihnen sind auch außerordentlich gute Erzähler.

Neben diesen Filmdokumenten werden auch Fotos, Autobiographien und andere Zeitdokumente gesammelt. Mit diesem Material wird ein Visual History-Archiv für Lebenserinnerungen aufgebaut, um der Nachwelt "Geschichte von unten" aus authentischen Quellen zu überliefern, deren Gegenüberstellung mit offiziell überlieferten Filmdokumenten weitere interessante Aspekte bieten kann.

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