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Rückblick im Zorn

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Zum neunzehnten Mal wurde in Budapest die Jahresproduktion des Films vorgestellt. Am Schluß gab es vielerlei Preise. Neben einer Fach-Jury entscheidet darüber eine zweite, die „gesellschaftliche“ Jury, die aus herausragenden Persönlichkeiten aller Sparten besteht. Diesmal führte den Vorsitz der Wirtschafts-Reformer Rezsö Nyers.

Wer sich fragen mochte, wie die ungarische Wirtschaft gedeihen kann, wenn der Chef eine Woche lang im Kino sitzt, wurde bald nachdenklich. Denn an den Auswirkungen der Wirtschaftsreform führt offenbar kein Weg vorbei, wenn man die Wirklichkeit von heute schildern will.

Der junge, vielseitig begabte Arbeiter wird straffällig, weil er nicht einsehen kann, daß es ihm schlechter gehen soll als so manchen, die die neuen Möglichkeiten der Privatinitiative skrupellos zu nutzen verstehen. Der junge Arzt wird von seiner Braut wegen eines geringfügigen Konflikts stehengelassen. Sie wendet sich einem fragwürdigen Spekulanten mit viel Geld zu. Eine Familiengemeinschaft zerfällt, weil die Eltern emsig und vielfach berufstätig sind und keine Zeit mehr für die Kinder haben.

Am stärksten wirkt in dieser Kategorie ein Dokumentarfilm über die erste Wahl einer „Miß Ungarn“ nach fünfzig Jahren. Zwei junge Filmemacher haben den ganzen Rummel dokumentieren und ein bißchen ironisch darstellen wollen. Auch seine Folgen: Die jungen Mädchen werden von der Werbebranche ausgenützt. Ein halbes Jahr nach der Wahl hat die Schönheitskönigin Selbstmord begangen, der Film bekam dadurch andere Akzente.

Die Verantwortlichen, soweit sie sich den Kameras stellten, wurden befragt, auch die Eltern des Mädchens. Aus 50 Stunden Video-Aufnahmen entstand ein erschütternder Neunzig-Minuten- Film, der auch eine Spur Selbstkritik enthielt. Denn wer immer sich an den Rummel hängte, wollte ja auch seinen eigenen Erfolg.

Ein anderes Dauerthema des ungarischen Films ist die Bewältigung der Vergangenheit. Diesmal fiel auf, daß zwei Filme die fünfziger Jahre aus der Perspektive jener schildern, die sie kaum bewußt miterlebt haben.

In „Keuchhusten“ werden die Ereignisse des Herbstes 1956 so gezeigt, wie sie ins Bewußtsein eines damals Zehnjährigen gedrungen sind. Man hat dabei in Kauf genommen, daß die Geschichte des Volksaufstandes etwas familiär, vielleicht auch zu harmlos erschienen ist. Immerhin, die Tränen des Lehrers, der nach den blutigen Tagen vor seiner Klasse steht und feststellt, wer „verreist“ und wer tot ist, sagen mehr als große Worte.

In dem Film „Laura“ kommt ein Arzt in den Steinbruch, wo er zur stalinistischen Zeit als Student Zwangsarbeit leisten mußte. Hier wird gerade ein Video-Clip gedreht: Junge Mädchen in neckischen Sträflingskleidern tanzen zu heißer Musik, als ob sie eine Legende aus alten Zeiten persiflierten.

Der Film „Gefühlvoller Abschied vom Fürsten“ zeigt den Herrscher von Siebenbürgen, Gabor Bethlen, in seinem letzten Lebensjahr. Er hat sein Land zu einem gewissen Wohlstand geführt und will nun, daß ein Spanier, den er an seinen Hof geholt hat, die Chronik seines Lebens schreibt. Er zeigt ihm auf der Landkarte sein kleines Reich zwischen den Großmächten: Türkei und Österreich. Siebenbürgen ist gleichsam ein Protektorat des Osmanischen Reiches, tributpflichtig, aber frei, von der östlichen Macht werden Wohlstand und westliche Kultur garantiert. „Unternimm nichts gegen die Türken“ , mahnt er seine Frau auf dem Sterbebett.

Die Parallelen zwischen Gabor Bethlen und Jänos Kädär sind so deutlich, daß es nicht mehr notwendig war, in diesem künstlerisch nicht besonders anspruchsvollen Film historische Fakten zu frisieren. In Ungarn wiederholt sich die Geschichte immer wieder.

Große Betroffenheit lösten zwiei Dokumentarfilme aus. Der eine zeigt ein Treffen ungarischer und italienischer Veteranen am Ison- zo, wo es 1918 kurz vor Kriegsende eine blutige Schlacht gab. Die Aussagen der Neunzigjährigen, die endlosen Reihen der Gräber, die feierliche Begegnung mit den alten Italienern, die Umarmungen unter Nationalhymnen-Be- gleitung: das hätte leicht unfreiwillig komisch geraten können, wirkt aber bewegend. Dazu sieht man Bilder von der Besetzung Budapests durch die siegreiche rumänische Armee. Der Gedanke wird nicht ausgesprochen, aber nahegelegt: diese Ungarn hätten ihre Heimat lieber in Siebenbürgen, als am fernen Isonzo verteidigt.

Ein größeres Wagnis war der Film von Sändor Sara: „Kreuzweg“ . Eine Gruppe von ungarischen Szeklern in der Bukowina wurde ausgesiedelt, als Hitler das Gebiet Stalin zugestanden hatte. Statt sie in ihre alte Heimat Siebenbürgen oder nach Zentral- Ungarn zu bringen, siedelte man sie 1941 in der Batschka an, die nach dem Ersten Weltkrieg an Jugoslawien gefallen, nun durch den „Wiener Schiedsspruch“ vorübergehend wieder Ungarn zugesprochen worden war. Bei Kriegsende waren die Szekler, die ja nur willenlose Schachfiguren sein durften, grausamen Racheakten jugoslawischer Partisanen ausgesetzt. Einundvierzig Männer wurden verschleppt, die Frauen warten noch heute auf sie. Die Frauen und Kinder hatten Unsägliches zu erdulden, bis sie nach Ungarn deportiert und dort in Häusern untergebracht wurden, die von Deutschen und Juden verlassen waren.

Nicht alles wird beim Namen genannt in dieser ergreifenden Dokumentation, man ist schließlich mit dem Nachbarn Jugoslawien befreundet. Aber ausgesprochen werden müssen auch diese Dinge einmal. Die Erzählungen der alten Frauen mündeten herzzerreißend in ein uraltes Klagelied.

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