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Wodka und Absinth (V)

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Noch ist der Antibolschewismus nach wie vor der beherrschende Gedanke unter den im Exil lebenden Russen. Doch diese Gegnerschaft zwischen den Emigranten und den roten Machthabern im Kreml ist längst nicht mehr von jener Leidenschaft geprägt wie vor dem zweiten Weltkrieg. Wird es aber zur Verständigung kommen?

Für uns waren Gespräche mit Exilstudenten der dritten Generation, mit denen uns ihre Großväter, ehemalige Kosakenoffiziere, und heute noch Pariser Taxichauffeure, bekannt gemacht hatten, recht aufschlußreich.

Die jungen Leute, die sich an der Bergwerkshochschule auf den Ingenieurberuf vorbereiten oder an der Sorbonne Philosophie und slawische Sprachen studieren, wußten zwischen menschlich-kulturellen Werten einerseits und exzessivem Materialismus anderseits sehr wohl zu unterscheiden.

Dies hinderte natürlich manche von ihnen nicht, technische Leistungen der Sowjetunion, insbesondere auf interplanetarem Gebiet, zu bewundern. Auch das Studium der Geschichte und einer umfangreichen politischen Literatur hat bei den Enkeln der Emigranten von 1920 eine kritische Betrachtungsweise der sozialen Verhältnisse und Vorgänge geweckt, die seinerzeit der Oktoberrevolution den Boden bereitet haben. Doch keiner erblickte deshalb eine Heillösung im roten System.

Widerspruch und Gemeinsames

Welch interessante, welch faszinierende Welt haben wir in diesen Wochen durchstreift! Wie vielen liebenswerten und geistreichen Menschen sind wir begegnet, die alle von schöpferischen Idealen besessen sind, ob sie nun Filme drehen, in der Oper tanzen, Bilder malen oder ihre Memoiren schreiben!

Wir haben in Palästen am Boulevard Saint-Germain Gespräche geführt, in Theatergarderoben Tee getrunken, Heime für elternlose Kinder besucht, in behaglichen kleinen Wohnungen altersvergilbte Dokumente eingesehen, während von der Wand das Gesicht des letzten Zaren still und traurig auf uns herabsah und sich das Flämmchen vor der Ikone kaum merklich bewegte, wenn ein durch Umblättern verursachter Lufthauch bis zu ihr hingelangte. Die Stunden vergingen, man spürte es nicht.

Und doch ist dem Chronisten selten ein Bericht schwerer gefallen als über das Thema des russischen Lebens und Sterbens in Paris. Denn jedesmal, wenn wir uns ein umfassendes Urteil gebildet zu haben glaubten, wurden wir an neue Gesprächspartner verwiesen, die, wie man uns versicherte, unerläßlich für unsere Untersuchung seien.

So löste fast jede Unterredung eine Kettenreaktion neuer Unterredungen, improvisierter Empfänge und Diskussionen aus, die sich manchmal bis in die Morgenstunden ausdehnten.

Wenn man uns die Frage stellt, was uns bei diesen Begegnungen am stärksten beeindruckt habe, so zögern wir nicht zu erwidern, daß es die erstaunliche Vitalität und der Idealismus der Älteren, Überlebenden war. Nur wenige unter ihnen können hier neben den bereits geschilderten Kronzeugen für besonders typische Verhältnisse und Überlegungen erwähnt werden.

Unvergeßlich wird uns unser alter Freund Gregori Chmara bleiben, der einst der berühmten Stanislawski-Truppe in Moskau angehörte, in der Stummfilmzeit an der Seite Greta Garbos und seiner ersten Ehefrau Asta Nielsen im Pabst-Film „Die freudlose Gasse“ spielte und später in Gorkis „Nachtasyl“ und Tschechows „Duell“ Triumphe feierte.

Trotz seines hohen Alters arbeitet Chmara an Sendespdelen und bereitet gerade die Inszenierung einer

Mereschkowski-Trilogie für das Theater vor. Er träumt auch von der Abfassung seiner Memoiren, in denen er seinen alten Freunden, Bekannten und Kollegen ein Denkmal setzen möchte.

Zu diesem Kreis gehören Albert Einstein, Paul Wegener, Elisabeth Berger, Ernst Deutsch, Werner Kraus und Heinrich George. In fortgeschrittener nächtlicher Stunde holt „Grischa“ seine Gitarre herbei und singt russische Lieder aus alter Zeit. Dann galt nur noch das „Du“ unter den Gästen, die er und seine Ehefrau, die Filmkritikerin Vera Völmane, charmant zu bewirten wissen.

Unter den Idealisten der russischen Emigranten, die selbstlos der Menschheit dienen, darf Sophia Zernoff nicht vergessen werden. Sie steht einem Heim für verlassene Kinder im Schloß Montgeron vor, das vor 26 Jahren von ihr gegründet wurde.

Als sie uns stundenlang durch das Schloß führte, das etwa 100 Kindern das Heim ersetzt und ihnen eine orthodoxe religiöse Erziehung bietet, gestand sie uns ihre Angst, ihr Lebenswerk könnte nach ihrem Tode zusammenbrechen.

In der Tat müssen 70 Prozent der Unterhaltungskosten von privaten Subsidien und milden Gaben bestritten werden, deren Aufbringung sich nicht immer leicht gestaltet hat. Sophia Zernoff kann es heute kaum selbst begreifen, wie sie seit 1939 mit allen materiellen Schwierigkeiten fertig zu werden vermochte.

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