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Bär und Drache

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Werden sie kämpfen? Jedermann stellt sich diese Frage, und jeder Experte fühlt sich bemüßigt, sie zu beantworten. Die, Sicherheit der Alten Welt hängt in hohem Maße davon ab. Es ist dies nicht nur die Folge des Machtpotentials beider Gegner, sondern einer sonderbaren Symmetrie. Die Sowjetunion ist in Sorge über ihre lange Grenze mit China, während sie gleichzeitig begierige Blicke auf Europa wirft, wo sie bereits einen „Gürtel“ früherer unabhängiger Staaten unter Kontrolle hat. China seinerseits hat die gleiche gemeinsame Grenze streng zu bewachen und ist gleichzeitig damit beschäftigt, eine kommunistische Nachkommenschaft in den Grenzländern von Burma bis Korea auszubrüten, Indonesien, die Philippinen, Nepal und Bhutan nicht zu vergessen. Bei diesem Stand der Dinge könnte Frieden an der sowjetisch-chinesischen Grenze erhöhte Gefahr an den anderen Grenzen der beiden Reiche bedeuten — oder auch umgekehrt.

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Werden sie kämpfen? Jedermann stellt sich diese Frage, und jeder Experte fühlt sich bemüßigt, sie zu beantworten. Die, Sicherheit der Alten Welt hängt in hohem Maße davon ab. Es ist dies nicht nur die Folge des Machtpotentials beider Gegner, sondern einer sonderbaren Symmetrie. Die Sowjetunion ist in Sorge über ihre lange Grenze mit China, während sie gleichzeitig begierige Blicke auf Europa wirft, wo sie bereits einen „Gürtel“ früherer unabhängiger Staaten unter Kontrolle hat. China seinerseits hat die gleiche gemeinsame Grenze streng zu bewachen und ist gleichzeitig damit beschäftigt, eine kommunistische Nachkommenschaft in den Grenzländern von Burma bis Korea auszubrüten, Indonesien, die Philippinen, Nepal und Bhutan nicht zu vergessen. Bei diesem Stand der Dinge könnte Frieden an der sowjetisch-chinesischen Grenze erhöhte Gefahr an den anderen Grenzen der beiden Reiche bedeuten — oder auch umgekehrt.

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Die Symmetrie in der politischen Strategie der beiden kommunistischen Riesen beruht auf tief verwurzelten historischen Traditionen: der expansionistischen Kraft des alten Rußland und dem tief verankerten Überlegenheitsgefühls des alten China. Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit haben bewiesen, daß diese beiden Traditionen unter kommunistischen Vorzeichen nichts von ihrer Sprengkraft eingebüßt haben — eher das Gegenteil ist der Fall. Aber hier endet die ganze Symmetrie, und das Bild wird einseitig, jedoch keineswegs klar. Ein erster Unterschied zwischen China und Rußland ist bereits in der Existenz dreier nicht unbedingt chinesischer Gebiete begründet, die südlich der Linie liegen, welche die Grenze des alten China zu bilden pflegte: Sin-kiang, die Mongolei und die Mandschurei, deren nördliche Nachbargebiete indessen nicht russischer sind als sie selbst chinesisch — möglicherweise weniger. Aber jene Gebiete — die nördlich der alten Grenzlinie gelegenen —, obwohl weder russisch noch chinesisch, werden schneller und erfolgreicher russifi-ziert, als ihre südlichen Nachbarregionen von Peking aus gleichgeschaltet werden; dies hat seine Ursachen darin, daß die Bevölkerung der ostasiatischen Gebiete der Sowjetunion einen geringeren Grad an innerem Zusammengehörigkeitsgefühl kennt als diejenige der Mandschurei, der Mongolei und Sin-kiangs und daß zudem das sowjetische Staatswesen straffer organisiert ist als das chinesische.

Die nördlichen Randgebiete des alten China waren Objekte und Schauplatz eines Ringens zwischen den beiden Großreichen, das bereits vor mehr als 100 Jahren begann. Sinkiang, obwohl dünn besiedelt und teilweise Wüste, lediglich wegen seines Reichtums an Bodenschätzen, die Mongolei und die Mandschurei wegen ihres allgemeinen Reichtums, der sie einst zu Begründern starker Reiche werden ließ. Dieser alte Machtkampf wurde durch das kaiserliche Rußland im reichlich rücksichtslosen Stil kolonialer Eroberungen jener Tage des vergangenen Jahrhunderts geführt, der — nach einem kurzlebigen Ausbruch brüderlicher russischer Großzügigkeit — unter dem Kommunismus und besonders nach der Machtübernahme durch Stalin wiederauflebte. Als Zeugnis jener Periode ist die Mongolei bis heute ein theoretisch unabhängiger Staat geblieben, der unter einem als „Staatschef der Äußeren Mongolei“ verkleideten Exponenten der sowjetischen Nachbarmacht von Moskau aus gnadenlos auf dem eigentlichen Stand einer Kolonie gehalten wird. Die Innere Mongolei gehört weiterhin zu China; es gibt jedoch noch ein drittes Stück der Mongolei vom Umfang eines größeren europäischen Staates, das im sowjetisch-sibirischen Reich ertränkt wurde.

Betrachten wir die beiden Riesenstaaten als Protagonisten des Weltkommunismus, so stellen wir noch einen weiteren und eher wichtigen Unterschied fest: Rußland befindet sich in einem fortgeschritteneren Stand als China, was die Evolution des Kommunismus an sich anbelangt. Der Erfolg seiner Revolution ist eine Generation älter, und dieser Zeitabstand hat eine Entwicklung seines eigenen Kommunismus in Richtung auf eine Art Nationalismus ausgelöst, der sich wenig vom alten

imperialistisch-kolonialistischen Machtstreben der Zaren unterscheidet. Es würde einem russischen Historiker schwerfallen, zu erklären, worin sich die Sibirien- und Chinapolitik Stalins oder Breschnews von jener der Zaren unterscheidet. Im Gegensatz dazu ist Mao immer noch ein Kommunist des vor-stalinisti-schen Zeitalters. Er glaubt immer noch an den Kommunismus und fühlt sich als dessen Prophet und Führer.

Dieser Unterschied erklärt die Entwicklung des chinesich-sowjetischen Verhältnisses seit den zwanziger Jahren, als einer der zuverlässigsten Sowjetagenten, Borodin, nach Kanton geschickt wurde. Borodins Zuverlässigkeit ging so weit, daß er als willkommener Sündenbock liquidiert werden mußte, nachdem er den Auftrag seiner Meister, der darin bestand, Tschiangkaischek und die Kuomintang gegen die Kommunisten zu unterstützen, buchstabengetreu ausgeführt hatte. Die Erklärung für die Haltung Moskaus in dieser Angelegenheit ist darin zu suchen, daß der damals seine Macht im Sowjetreich festigende Stalin am Sieg des Kommunismus in Rußland, jedoch nicht in China interessiert war, denn er war mehr Nationalist als Kommunist, und dies gilt auch für seine Nachfolger.

Die Hauptquelle von Maos heutiger „moralischer“ Autorität ist darin zu suchen, daß er nicht nur ohne Stalins Hilfe, sondern auch gegen dessen Willen zum Herrscher Chinas wurde. Maos Stolz wird weiter dadurch untermauert, daß der Aufbau Chinas auch nach der Einstellung der sowjetischen Hilfe weiterging und daß er sein Land in den exklusiven Klub der Nuklearmächte zu führen vermochte. Was das Potential seiner wissenschaftlichen Fähigkeiten anbelangt, befindet sich China zweifellos auf einer Ebene mit der Sowjetunion, deren eigene wissenschaftliche Errungenschaften alle Anerkennung verdienen, jedoch zu einem geht, so hat Rußland sich immer bereit gezeigt, seine Grenzen durch rohe Gewalt zu erweitern, während China es immer vorzog, hinter seiner Mauer zu bleiben oder andere Gebiete lediglich durch mehr oder weniger friedliche Durchdringung zu gewinnen. Der chinesiche Kaiser war der einzige Herrscher in der Welt, der nie eine Uniform trug. Mao, obwohl er China mit militärischen Mitteln zu einem kommunistischen Staat machte, hat mit einigen seiner monarchischen Vorgänger die Eigenart gemeinsam, daß er ein Poet ist — eine Eigenschaft, die niemand bei Breschnew oder Peter dem Großen, geschweige denn bei Stalin oder Iwan dem Schrecklichen vermuten würde.

Was ist eigentlich der Zweck des ganzen Geredes über einen angeblich möglichen sowjetisch-chinesischen Krieg? Es ist wahrscheinlich zum größten Teil auf die Aussagen von Experten zurückzuführen, die den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Aber wer würde aus einem solchen Konflikt Nutzen ziehen? Sollten einmal Rußland und China in einen blutigen und erschöpfenden Konflikt miteinander verwickelt werden, so würden mit größter Wahrscheinlichkeit die europäischen und asiatischen Satelliten der beiden kommunistischen Riesen ihre Fesseln abschütteln. Diese Hypothese dürfte eine der Hauptursachen der vielen Berichte über einen „unmittelbar bevorstehenden“ Krieg sein.

Die reinen Tatsachen scheinen, trotz dem russischen Säbelrasseln an Elbe und Ussuri, eine andere, weniger dramatische Sprache zu sprechen. Die Russen haben kein Interesse daran, als „militärische Lokomotive“ von 700 Millionen Chinesen zu dienen. Die Chinesen sind ihrerseits zu arm, um hohe russische Rechnungen für Maschinen mit Lebensmitteln, die sie selbst brauchen, zu bezahlen. Außerdem befinden sich die Russen auf dem Weg vom Kommunismus zu einer Art von sozialistischem Zarismus oder Absolutismus, während die Chinesen immer noch ihren Kommunismus durch Industrialisierung festigen müssen. Beide Mächte stehen vor schwierigen Problemen demographischer und geopolitischer Art, denn Rußland besitzt halb Asien, und zwar gerade die Hälfte, die im Verhältnis zu China fast leersteht. Aber auch diese Probleme scheinen, objektiv gesehen, in unserer Generation noch zu keiner akuten Krisensituation zu führen. Akut ist dagegen die subjektive Seite des ganzen Problemkomplexes; die beiden Protagonisten bellen einander an, ohne beißen zu wollen. Aber, wie das spanische Sprichwort sagt, „wenn sich Marktfrauen zanken, dann fliegen Wahrheiten herum“. Presse und Radio der Sowjetunion verbreiten viele Einzelheiten über den chinesischen Kommunismus

— das gleiche gilt in umgekehrter Richtung —, die die Feinde des Kommunismus interessant und dessen Freunde höchst merkwürdig finden. Durch diesen ganzen Lärm wird der internationale Kommunismus, einst eine Bewegung von Weltmacht-format, erschüttert und in zwei Hälften getrennt, deren Führungen sich gegenseitig als „Lakaien des amerikanischen Imperialismus“ bezeichnen. Dadurch entstand der Poly-zentrismus, eine glänzende italienische Erfindung.

Welche Schlüsse würde Marx oder Lenin aus all diesen faszinierenden Ausgangspunkten ziehen? Die gegenwärtigen Streitereien vermitteln keineswegs den Eindruck einer wissenschaftlichen Entwicklung, von der Marx seinen Zeitgenossen weiszumachen versuchte, sie müsse die Gesellschaft zu jenem universellen Frieden führen, der unausbleiblich sei, wenn die arbeitenden Klassen die Bourgeoisie und den Staat vernichtet hätten. Der Gedanke, daß die führenden kommunistischen Staaten in einen Krieg gegeneinander — auch nur in einen solchen der Worte

— verwickelt werden könnten, läßt sich mit dem Marxismus schlechthin nicht vereinbaren. Kein Wunder daher, daß der alte Glaube an den Kommunismus in jedem kommunistischen Land im Schwinden begriffen ist und daß die kommunistischen Regime Chinas und Rußlands nur mit militärischer Gewalt aufrechterhalten werden können.

Auf der Suche nach einer objektiven Basis für ihren Streit mit Moskau haben sich die Chinesen stark einem rassistischen Standpunkt genähert. Sie spielen sich als Verteidiger der Asiaten, Afrikaner und Lateinamerikaner auf; sie können dies jedoch nur auf der Basis der Hautfarbe in Frontstellung gegen die Weißen tun, wobei sie wiederum einen Großteil der lateinamerikanischen Bevölkerung vor den Kopf zu stoßen riskieren. Inzwischen hält die größte und fortgeschrittenste kommunistische Nation der Welt weiterhin eine Streitmacht in Kriegsbereitschaft, wie sie die Welt in diesem Ausmaß noch nie gesehen hat, beherrscht eine Reihe von Satellitenstaaten, besittz in Asien eines der größten Kolonialreiche der Weltgeschichte und bedroht mit ihren Truppen noch die zweitgrößte kommunistische Macht. Außerstande, Frieden zu schließen und einander zu verstehen, führen die beiden kommunistischen Großmächte einen Krieg der Worte, der zuweilen so heftig ist, daß die übrige Welt in Schrecken versetzt wird, es sei denn, sie hoffe, die beiden kommunistischen Riesen geraten wirklich militärisch aneinander „und lassen uns in Ruhe“ — natürlich eine reine Chimäre. Der gegenwärtige Stand der Dinge hat den Handel zwischen der Sowjetunion und China beinahe stillgelegt; beide suchen sie ihre Wirtschaftsbeziehungen mit ihren kapitalistischen Erzfeinden zu verstärken. Sie folgen damit dem Freigeist Voltaire, der betete: „O Gott, schütze mich vor meinen Freunden, vor meinen Feinden schütze ich mich selbst.“

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