6664638-1960_26_01.jpg
Digital In Arbeit

Nach Kishi?

Werbung
Werbung
Werbung

Auf dem Höhepunkt der Kundgebungen gegen Japans Premierminister Kishi, eine Woche nach dessen Absage des Eisenhower-Besuches, erklärte der Sprecher der Regierungspartei, Kosaku Shi-noda, die Politik der amerikanischen Besatzungsbehörden nach dem zweiten Weltkrieg sei für die gegenwärtige Schwäche der japanischen Polizei, der japanischen Armee, die von den Amerikanern als „polizeiliche Hilfsstreitkräfte“ bezeichnet worden sei, verantwortlich. Dadurch sei die Unterdrückung der Kommunisten und anderer subversiver Elemente erschwert worden.

Man kann Weltgeschichte im allgemeinen und im Heute immer auch unter diesem Gesichtspunkt sehen: unter der Perspektive von Polizeiobersten und von politischen Oberherren, die auf eine von möglichst weit entfernten ausländischen Mächten verführte elende Masse herabsehen. Wobei in dieser japanischen Perspektive eigentümlich dicht nebeneinander der große Freund und der große Gegner gleichermaßen beschuldigt werden: Washington und Moskau.

Man kann die „besonderen Vorkommnisse“ in Japan auch anders, näher besehen: mit dem Blick oppositioneller Politiker, die sich durch Kishis Regierung seit drei Jahren von der Mitsprache ausgeschaltet sahen.

Inzwischen sind in nächster Nähe Kishis führende Politiker seiner eigenen Partei gegen ihn aufgestanden und haben ihn aufgefordert, Unverzüglich seinen Abschied zu nehmen und das Inkrafttreten des Vertrages zu verhindern.

Dem Europäer, nicht zuletzt dem Österreicher, der sich Japan in aufrichtiger Freundschaft verbunden weiß, tut noch ein dritter Blick auf die japanischen Vorkommnisse not, von denen niemand im Moment sagen kann, wie sie sich zunächst entfalten werden: sie können verebben wie eine Sturmflut, wie ein kurzstößiges Erdbeben, sie können in eine Zukunft hinein Japans und Ostasiens Gesicht verändern.

Erdbebenland Japan, das ist ja auch dies: deT japanische Volkskörper ist durch die rasche und radikale Industrialisierung und Technisierung ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine permanente innere Verwundung gerissen worden. Japans Siege gegen Rußland im ersten Weltkrieg, Japans wirtschaftliche Expansion sind mit tausend inneren Verwundungen bezahlt worden. Die zwangsweise „Demokratisierung“ nach 1945 steht in der Kette der Kettenreaktion ab 1870. Die heute, 1960, aus den Wunden der Atombomben blutenden Einzelnen, die auf dem Podium bei Kongressen und Veranstaltungen gezeigt werden, sind Symbole für diese größere Verwundung eines Volkskörpers, der unendlich tief eingewurzelt war in archaischen leibseelischen Geborgenheiten und diesen radikaler und „erfolgreicher“ entrissen wurde, als bisher andere große Völker außerhalb der weißen technokratischen Hemisphäre; das rot-gelbe China ausgenommen.

Dazu ist noch eines zu sehen: der „Kriegsverbrecher“ von 1945, Kishi, zuvor Munitionsminister im Kriegskabinett, heute militanter ProAmerikaner, steht für eine alte Herrenschicht von Autokraten, die Japan und die von ihm eroberten Gebiete mit Polizei und Armee streng zu überherrschen gewohnt waren. Hinter und neben diesen alten Männern der Macht steht jedoch die große Unruhe der japanischen Wirtschaft, die weder in Ost noch in West große Wirtschaftsräume offen sieht. Das ist vielleicht das schwierigste Problem: der Westen ist für Großoffensiven der japanischen Wirtschaft verschlossen, der Osten, China und der Ostblock, ist ihr nicht offen. Aus politischen Gründen. Noch nicht. Ein Sicherheitsvertrag allein ist da nicht genug. Kishis und Eisenhowers Nachfolger und auch Europas Wirtschaftsführer und Politiker werden sich mit dieser Lebensfrage Japans dringend beschäftigen müssen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung