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Volk, Staat, Nation

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Österreichs „nationales Bekenntnis“ heißt das Thema.

Nationales Bekenntnis Da stock’ ich schon. Selbst wenn das Wort „national“ in Österreich durch Jahrzehnte, ja bis in unsere Gegenwart herauf nicht eine Etikette für eine ganz bestimmte parteipolitische und geistige Strömung gewesen wäre, liegen Mißverständnisse und gefährliche Begriffsverwirrungen in der Luft. Wir kennen es ja zur Genüge. Wer heute „Friede“ sagt, muß nicht Frieden meinen, und wenn zwei Menschen sich zur Demokratie bekennen, so ist noch lange nicht gesagt, daß die Demokratie des einen auch so aussieht, wie sie sich der andere vorstellt. Und mit dem „nationalen Bekenntnis“, mit dem Bekenntnis zur Nation, verhält es sich ebenso. Auch in Österreich. Gerade in Österreich.

Wandlung eines Begriffs

Deshalb auf vom Schreibtisch und die zwei Schritte zur Bücherwand getan. Dort findet sich zunächst ein „Teutscher Diktionarius, daz ist ein ausleger schwerer unbekannter Teutscher, Griechischer, Lateinischer, Hebräischer, Welscher und Französischer etc. Wörter, zu Augsburg herausgegeben 1571 von Simon Rot.“ Schlag nach unter N. N wie Nation. Hier wird uns kurz und bündig die Antwort: „Nation, Ein Volck, daz in einem Landt erboren ist.“

So einfach war das damals.

Ein Regal tiefer ist der gute alte Brockhaus zu Hause. Er trägt die Jahreszahl 1894. Seine Auskunft:

„Nation (lat., von nascere, entstehen), nach dem deutschen Sprachgebrauch im Gegensatz zu Volk als der Gesamtheit der Staatsgenossen, die erbliche Stammes-, Sprach-, Sitten- und Kulturgemeinschaft, welche bestimmten Menschenmassen und Familien ein eigentümliches Rassegepräge aufdrückt und sie von den anderen N. abhebt. Doch ist der Sprachgebrauch schwankend. Der franz. und engl. Sprachgebrauch nenht umgekehrt nation,wäs wir Volk nennen, und peuple, people, was wir N. nennen. In Asien und während des Mittelalters auch in Europa, heute noch in der Türkei, schied der Gegensatz der Religion die N. voneinander.“

Man sieht: Das Leben ist komplizierter, der Begriff Nation zweideutig, wenn nicht vieldeutig geworden. Uns interessiert aber nicht so sehr die Vergangenheit, uns muß es vor allem darum gehen, Österreichs nationales Bekenntnis in der Gegenwart zu erforschen. Darum tut es schon gut, auch noch den „Großen

Herder“ aufzuschlagen, der im Jahre 1955 erschienen ist. Er macht sich die Antwort alles andere als leicht. Hören wir, bitte, aufmerksam, was dieses im deutschen Sprachraum führende Lexikon uns zu sagen hat.

„Nation (von lat. natus — geboren), pol. Lebensgemeinschaft von Menschen, die sich durch das Bewußtsein bestimmter, ihnen allein eigener Besonderheiten als Einheit, als eine Art ,Kollektivpersönlich- keit’ fühlen und bestrebt sind, durch gemeinsame politische Wirksamkeit ihre Eigenart gegen äußere und innere Widerstände zu erhalten und

Die Chance von 1809 m auszubreiten. Im Unterschied zum ursprünglicheren gewachsenen’ Volk ist die Nation ein ausgeprägt polit.- histor. Gebilde. Im Unterschied zur Gesellschaft erstrebt sie ihre Organisierung rlicht bloß allgemein in einem einheitlichen Verband, sondern betontermaßen fo der Form des Staats, ohne aber dem Wesen nach mit ihm identisch zu sein.

Das Nationalbewußtsein kann seine Wurzel haben in der gemeinsamen Sprache, in der einheitlichen Kultur, im gemeinsamen Siedlungsraum’, in ethnisch-rassischen Gegebenheiten Objektiv ist durch die verschiedene Ausprägung dieser Faktoren und durch ihre verschiedene Kombination jede Nation im Kreis der übrigen Nationen ein insgesamt in bestimmter Weise gestaltetes individuelles Gebilde. Erst das Zusammenwirken dieser aller oder der meisten Faktoren schafft die

Nation; einzelne Elemente für sich können in der Regel nicht den Anstoß zur Entwicklung eines Nationalbewußtseins geben. So haben z. B. mehrere Nationen die Sprache gemeinsam Anderseits können trotz verschiedener Sprachen gemeinsame politische Interessen und Aktionen in der Geschichte zu einer Nation zusammenführen.“

Wenn wir kurz zusammenfassen, so fallen an dieser sehr erschöpfenden Antwort vor allem zwei Dinge -ins Gewicht:

• Nationen verdanken den verschiedensten Wurzeln ihr Entstehen.

Photo: Hubmann

Darunter kann sich auch die gemeinsame Sprache befinden.

• Die Betonung aber liegt eindeutig auf der „politischen Lebensgemeinschaft“. Das festzuhalten, scheint geboten. Es wird Gelegenheit genug sein, daraüf zurückzükommen.", Markieren wir fürs erste einige Richtpunkte. Werm sich im Herbst des Mittelalters als erstes Studenten nach „Nationen“ zusammengesellten, so hatten diese Gemeinschaften den Charakter reiner landsmannschaftlicher Verbindungen. Wenn auf dem Konstanzer Konzil die Abstimmung das erstemal nicht nach Köpfen, sondern nach „Nationes“ erfolgte und neben der englischen, französischen, spanischen und italienischen auch die „deutsche“ aufgerufen wurde, so zählten zu dieser selbstverständlich alle Kardinäle deutscher Zunge. Anhänger eines biologisch-sprachlich determinierten Nationsbegriffs seien jedoch vor voreiligen Schlüssen gewarnt. Unter „deutscher Nation“ wurden damals nicht nur die skandinavischen, son-

dern auch die ungarischen und polnischen Kirchenfürsten geführt. Die Grenze der Nation wird also entweder sehr eng oder sehr weitherzig gezogen.

Humanismus und Renaissance legen die Wurzeln für den modernen Nationalstaat, der seine erste Ausbildung im Westen Europas, vor allem in Frankreich, erfährt. In Wien aber sitzt der Kaiser, später Erbe der Cäsaren West-Roms. Sein „Heiliges Reich“ kann er selbst locker nur Zusammenhalten, gestützt auf eine konkrete Hausmacht, wie sie ihm seine Erblande garantieren. Als aber die Reichsfürsten die Waffen gegen das Erzihaus erheben, endet das Reich, bevor ihm 1806 offiziell der Totenschein ausgestellt wird. Maria Theresia und Fridericus, die Kaiserin und der König, waren für die Soldaten im weißen Waffenrock oder in Preußischblau Realitäten. Das Wort „Nation“ stand nicht auf ihren Fahnen. Wohl aber gab die Selbstauflösung des Reiches der Kaiserin zu denken. Aus den Briefen an ihre Tochter Maria Antonia (allgemein bekannter als Marie Antoinette, Königin von Frankreich) wird mitunter bei passender und unpassender Gelegenheit die aus dem Gemüt kommende Ermahnung, eine gute Deutsche zu bleiben, zitiert. Verschwiegen wird aber stets, daß eben dieselbe Kaiserin, so sie politisch dachte und politisch handelte, entschlossen war, den Weg vorzuzeichnen, der ihren österreichischen Landen inmitten der Erscheinungen Flucht, Bestand und Festigkeit allein zu garantieren schien. Nicht von ungefähr wird den Reformen des Jahres 1774 das erstemal die Terminologie „österreichische Nationalerziehung“ zugrunde gelegt. Ein Vorhaben, das von Louis René La Ghataulais Programm zur Erziehung des französischen Nationalbürgers nicht unbeeinflußt erscheint.

i Politische Mündigkeit

Nur wenige Jahre wird es dauern, dann ‘stürmt dieser französische Nationalbürger unter den Fahnen der Französischen Revolution und später Napoleons I. gegen das dynastische Europa, das nicht zuletzt durch Österreich repräsentiert wird. Kaiser Franz I. aber steht 1809, als es ums Ganze geht, vor einem großen inneren Dilemma. Den Feind schlagen kann er nur, wenn er das von seiner großen Großmutter eingeleitete Werk kräftig vorwärtstreibt, wenn er die Massen seiner Untertanen, gleichgültig, welche Sprache sie sprechen, zur politischen Mündigkeit führt. Mit anderen Worten, wenn er ihren Reifeprozeß zur Nation fördert. Demgegenüber steht aber das jakobinische Schreckgespenst.

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