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Bei den Ainu auf Hokkaido

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Wer das japanische Inselreich durchquert, stößt allenthalben auf Ortsbezeichnungen und selbst in Tokio auf Straßennamen, die dem Sprachgut des Ainuvolkes entstammen; sie sind für die weit überwiegende Mehrheit der heutigen Japaner richtige Fremdworte. Hierfür gibt es eine naheliegende Begründung. Wie auch immer man den noch undurchsichtigen Ablauf der Rassengeschichte auf diesem Archipel deuten mag, zumindest steht fest, daß seit altersher die Ainu mehr oder weniger zahlreich auf den großen Inseln Honshu und Hokkaido ansässig gewesen sind, und daß es schon vor Beginn unserer christlichen Aera zwischen ihnen und den eigentlichen Japanern im Norden von Honshu kriegerische Auseinandersetzungen gegeben hat. Hoshu ist Japans größte Insel mit der Hauptstadt Tokio, nach Norden schließt sich die Insel Hokkaido an. Sie wurde in früheren Jahrhunderten als öd, frostig und unwirtlich von den Besiedlern Honshus möglichst gemieden; den dortigen Ainu diente sie als ein sicherer Hort. Zu Beginn des christlichen Mittelalters ist es dann japanischen Truppen gelungen, dort-selbst festen Fuß zu fassen und strichweise den alten Besiedlern eine gewisse Botmäßigkeit aufzuzwingen. Wie ersichtlich, standen und stehen sich seit einer unbestimmbaren Zeitspanne zwei verschiedene Rassen auf dem japanischen Archipel gegenüber, zeitweilig feindselig und dann wieder friedlich.

Ob den Ainu tatsächlich der Vorzug gebührt, als deren Erstbesiedler angesprochen zu werden, vermochte weder die Rassenkunde noch die Kulturgeschichte klarzustellen.

Ob vielleicht einmal jene speziellen prähistorischen Denkmäler Antwort darauf geben, für die man hierzulande die Bezeichnung „Kanjo Sekiri = Steinkreise“ geprägt hat? Gebilde dieser Art finden sich im nördlichen Honshu vereinzelt, gehäuft auf Hokkaido. Jeden Sachkenner dürften diese Steinringe, nämlich für gewöhnlich ein äußerer, weiterer Steinkreis, der einen inneren, engeren einschließt, als den europäischen Cromlechs wesensgleich ansprechen. In Japan wird solch ein Steinkreis gebildet von zahlreichen, in den Erdboden 14 bis 25 cm tief eingelassenen Steinstelen, 35 bis 70 cm hoch freistehend, jede mit einem Durchmesser von variablen Maximalmaßen zwischen 20 und 45 cm. alle mehr oder weniger eng aneinander gereiht zu einem annähernd genauen Kreis, dessen Radius Ausdehnungen von 3 bis 20 m aufweist. Die Form der Stelen selbst, zwar länglich, ist nichts weniger als einheitlich. Erweisen läßt sich an jedem der Steinkreise, daß die Steine aus beträchtlicher Entfernung an den Bauplatz herbeigeschafft worden sind; welch letzterer je sich regelmäßig auf einem erhöhten Plateau oder zumindest auf einer weithin sichtbaren, hochgelegenen Stelle befindet. Im Mittelpunkt des inneren Steinkreises selbst steht gewöhnlich eine 40 bis 80 cm über den Erdboden herausragende Stele, mit etwa 20 bis 35 cm Durchmesser und glatter Oberfläche, ihrer Form nach einer dicken Zigarre gleichend. An sie unmittelbar anstoßend und rund um sie herum sind strahlenförmig handlange, gut nebeneinander geschichtete Steine in den Erdboden eingedrückt, gleich Blättern einer Rosette umkränzen sie die aufrecht stehende Stele. Man wird bei deren Anblick an eine Sonnenuhr erinnert. Gebilde dieser letzteren Art gibt es überdies in dem und jenem großen, von den beiden Steinringen eingeschlossenen Räume, unregelmäßig über die beiden Flächen verteilt und nach wechselnder Anzahl; in ihren Dimensionen sind sie selbstverständlich kleiner als die Rosette im Mittelpunkt es ist. Unter dieser selbst nun, und auch unter einigen kleineren, in etwa 60 cm Tiefe, stößt man häufig auf eine ausgeschaufelte Grube, deren Kastenform, einer kleinen Grabkammer vergleichbar, für den Leichnam eines Erwachsenen genügend Raum bieten würde. Doch hat man darin noch nie menschliche Knochenreste oder Anzeichen solcher angetroffen. Gelegentlich werde ich den Beweis dafür vorlegen, daß die oben kurz skizzierten japanischen Steinkreise typische Erzeugnisse der Megalithkultur sind; welch letztere bei ihrer weltweiten Ausdehnung auch in diesen Archipel eingedrungen ist und ihm seine sehr auffälligen Eigenarten aufgeprägt hat.

Die akademischen Sommerferien vorigen Jahres habe ich damit ausgefüllt, im nördlichen Bereich von Japan mehrere der gut erhaltenen Steinkreise zu besichtigen. Zweifelsohne sind diese stilgerecht angelegten Denkmäler in Oyu (Akita-Präfektur), in Mikasa-yama und Yichiu-yama (beide unweit Otaru auf Hokkaido) sowie in anderen Bezirken von ihren Erbauern den Seelen der Verstorbenen gewidmet worden; kurz gesagt, sie haben eindeutig als Stätten eines Totenkultes gedient. Für eben diese Aufgabe überhaupt sind die Megalithbauten an vielen Stellen der Erde errichtet worden, deren nach-paläolithische weltweite Verbreitung wahrscheinlich im südwestlichen Europa ihren Anfang genommen haben dürfte. Sie sind unmißverständlicher Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung, im besonderen des Glaubens an ein Weiterleben der menschlichen Seelen über den Tod hinaus: Da sich ihr Inhalt und Geistesgut da und dort im Bereich der Naturvölker bis in unsere Tage herein lebendig erhalten hat, lassen sich manche wesentliche Grundgedanken herausstellen. Dazu gehört eben, daß für die Dahingeschiedenen, nämlich die ferneren Ahnen wie die nahen Vorfahren, eine bequeme, feste und unzerstörbare Wohnung bzw. Ruhestätte im Lebensbereich ihrer Hinterbliebenen aufgerichtet werden muß; damit beide Teile unbehindert miteinander verkehren können. Denn die Ahnen gelten als vielvermögende, einflußreiche Wesen, von deren Mitwirkung der günstige Zustand der Menschen, der Haustiere und der Felder abhängt. Ein anhaltender Totenkult in dieser oder jener Form ist demzufolge eine lebensnotwendige Pflicht der Ueberlebenden. Gerechtfertigt erwarten dann diese von ihren kultisch verehrten Ahnen, daß sie sich fürbittend beim höchsten Wesen, einem richtigen Schöpfergott und Lenker alles Sichtbaren, einsetzen; denn er ist die letzte Ursache alles Guten und jeden Erfolges. Angesichts der erst neuerdings begründeten Tatsache einer zeitlich und mehr noch räumlich weiten Ausdehnung des Glaubensinhaltes der Megalithiker, kann dieser Anspruch darauf geltend machen, einer der bekannten Weltreligionen gleichgestellt zu werden.

Bei der Frage, wer Wohl die Erbauer der megalithischen Stätten auf den japanischen Inseln gewesen sind, lasse man sich von der Vermutung nicht irreführen, es seien die Ainu eben die ersten Besiedler gewesen; denn sehr wohl könnte auch eine andere Rassengruppe diesen Vorzug für sich beanspruchen. Mir persönlich jedenfalls erscheint es unbegründet, jene Steinkreise den Ainu als Erbauern zuzusprechen. Der Gedanke eines regelrechten Totenkultes ist ihnen nämlich immer fremd gewesen; vielmehr haben sie strengstens jede gedankliche Verbindung mit der Seele eines dahingeschiedenen Verwandten und Freundes, .schroff ^abgebrochen und ängstlich vermieden. Ueberzeugt möchte Jch jedoch die hier geschilderten Steinkreise ajsydas, typische Produkt der Megalithkultur erklären, die sich, wahrscheinlich im Mesolithikum, auch nach Japan hinein vorgeschoben hat.

Die körperliche Erscheinung der reinblütigen Ainu ist die der Paläasiaten, unverkennbar verschieden von jener der Japaner; mongolische Züge fehlen ihnen zur Gänze. Männer wie Frauen sind mittelgroße, kräftige Gestalten, manche muten völlig europäisch an. Auffallend ist die reiche Körperbehaarung beider Geschlechter; der sehr volle, lange Bart verleiht gereiften und alten Männern eine imponierende Würde. Seit Beginn dieses Jahrhunderts ist es den Frauen nicht mehr erlaubt, den ehedem allgemeinen breiten Schnurrbart sich tatauieren zu lassen; weswegen man ihn heute nur noch bei bejahrten Matronen antrifft. Organisiert waren sie nach Totemclans, und in ihrem Geistesleben spielt bis heute der Bär eine entscheidende Rolle; mit lebhafter Begeisterung und allgemeiner Anteilnahme feiern die Alten alljährlich die rituelle Bärentötung auch jetzt noch.

Ob es gegenwärtig noch 10.000 reinblütige Ainus gibt, wie manchmal behauptet wird? Nicht einmal eine annähernd genaue Statistik läßt sich aufstellen, weil Zwischenheiraten als solche nicht registriert werden. Und, wenn eine Japanerin sich ehelich mit einem Ainu verbindet, bezeichnet dieser dann seine Kinder als seinem Volke angehörig; in gleicher Weise rechnet ein Japaner die ihm von seiner Ainufrau geborenen Kinder zu seiner Nationalität.

Ganz Hokkaido und erst recht der Norden von Honshu sprechen heute jeden Besucher aus dem Süden durchaus japanisch an; sei es das Siedlungsbild und die Beschäftigung der Bewohner, sei es ihre Sprache, Kleidung und Lebensweise. Der seltsame Rassentypus allerdings überrascht mit seiner unverfälschten Eigenart dann und wann noch einen scharfen Beobachter. Die merkwürdigen Ainu auf Hokkaido haben tatsächlich aufgehört, als ein Volk zu existieren; gerade die jüngste Vergangenheit hat ihre geschlossene urtümliche Eigenart ausgelöscht. An einiges daraus werden die Objektsammlungen in Museen und viele kleine Schilderungen für die nächste Zeit noch erinnern.

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