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DIE KUNST DES SCHWEIGENS

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Abwolil die Pantomime auf eine reiche Tradition zu- rückblicken kann, ist sie uns doch nicht so vertraut wie der Tanz und das Drama, aus dessen Symbiose sie entstanden ist. Vielleicht deshalb, weil die Pantomime eine „schwierige“ Kunst ist, bei der der Zuschauer aktiv mitarbeiten, mitdenken muß. Er hat das vom Schauspieler abstrakt-symbolhaft Ausgedrückte in konkrete Bilder zu übersetzen.

Man hat auch im allgemeinen nur eine sehr vage Vorstellung Von dem Begriff Pantomime: etwa ein Tanz mit meist lustiger Handlung. Das stimmt aber nur, wo es sich um Unterhaltungs- pantomimik handelt, zum Beispiel Zirkusclownerien.

Man muß unterscheiden zwischen Tanz, Pantomime und Mime. Der Tanz ist die Kunst der Bewegung. Er „dreht“ sich nach der Musik, deren Tonfiguren er sichtbar auf den Boden überträgt. Dort, wo der Tanz lyrisch wird, leitet er zur Pantomime über, wie bei den Tanzstudien „Der sterbende Schwan“ oder „Der Nachmittag eines Fauns“.

Erstrebt der Tanz Befreiung, Loslösung von aller irdischen Schwere, so beschäftigt sich die Pantomime mit der Erforschung und Charakterisierung des Menschen. Der Mime liefert aber kein getreues Abbild, sondern eine exakter und ins Detail gehender Beobachtung entsprungene „Karikatur“, die aber keineswegs immer komisch sein muß. Es entsteht, wie Gordon Craig es genannt hat, eine Art Übermarionette.

Pntomime ist die Kunst der Körperhaltung und, im Gegensatz zum Tanz, statisch und an den Boden gebunden: der Mime ist eine Statue in Bewegung. Der sogenannte „gefrorene Tanz“ galt schon in Japan als der Höhepunkt eines Schauspiels, weil der körperliche Ausdruck nur dann überzeugend ist, wenn er aus echtem Empfinden und tiefem Erleben des Darstellers geboren ist. Bei der Pantomime gibt es kein Betrügen, Vortäuschen und Verwischen, sondern nur aufrichtige Deutlichkeit, sonst ist jedes Verständnis von vornherein ausgeschlossen und das Vertrauen des Zuschauers, auf das sich der Mime als Grundvoraussetzung stützen muß, verloren. Und einmal empfundenes Mißtrauen, gerade in einer so subtilen Kunst, wie der Darstellung ursprünglichster, tief in jedem Menschen schlummernder Gefühle, wird nicht so leicht wieder aufgegeben. Um überzeugen, um das Herz des Zuschauers treffen zu können, um ihn glauben zu machen, daß wirklich er selbst gemeint ist, bedarf es größter Ehrlichkeit und Sauberkeit in der Darstellung. An diesen letzten Punkt muß man denken, wenn man sich über einen Satz, den Marcel Marceau einmal gesagt hat, wundert: „Die Form ist das Wichtigste in der Pantomime. Die Form erst kann den Inhalt schaffen. Wir sind auch nicht vom Inhalt, sondern von der Form einer Bachschen Fuge ergriffen.“ Daß diese Behauptung keineswegs eine neuerworbene Erkenntnis ist, zeigt der Ausspruch des griechischen Schriftstellers Lukian: „Der Mime, der sich in seiner Geste irrt, macht einen Sprechfehler mit der Hand.“

Im Gegensatz zum Tanz richtet sich in der Pantomime die Musik nach dem Dargestellten, und nicht umgekehrt. Sie ist Ausschmückung und nicht Grundbedingung, sie zeichnet nur die dramatischen Akzente. Die Musik hat hier dieselbe Aufgabe wie die Farbe in der Zeichnung.

Eine verhältnismäßig unbekannte Form ist die Mime, die sich von der Pantomime vor allem dadurch unterscheidet, daß sie keine Handlung hat. Sie ist einfach die Sichtbarmachung einer Idee. Ihr Schöpfer Decroux charakterisiert sie folgendermaßen: „Die Idee wird in der Mime verkörpert, ohne dabei — wie in der Pantomime — symbolisiert zu werden.“ Der Darsteller der Mime identifiziert sich mit der Natur und den Elementen und macht sie durch das Gegengewicht seines Körpers sichtbar. Ein typisches Beispiel dafür sind die Stilübungen Marceaus: Gehen gegen den Wind, Tauziehen im Wasser. Der Ausdruck des Kör- |g pers allein schafft die Illusion des Vorhandenseins von Gegenständen, Menschen und Atmosphäre. „Der Mime muß auf einer Fläche von zwei Quadratfuß das Universum repräsentieren können." (Decroux.)

Besser als alle Erklärungen kann ein kurzer Überblick über die Geschichte der Pantomime ihr Wesen verdeutlichen: Die Pantomime konnte bereits auf eine jahrhundertealte asiatische Tradition zurückblicken, bevor sie für Europa neu entdeckt wurde. Ihre schon seit damals bestehende enge Verbindung mit dem Tanz und dem Drama läßt sich besonders deutlich aus dem Indischen erkennen: das Wort „nat“ heißt Tanz, „nata Schauspieler und „nataka“ Drama. Im Japanischen gibt es für Schauspieler und Tanz überhaupt nur ein Wort. In Griechenland spielte die Pantomime in den Tänzen und Gesängen, die zu Ehren des Gottes Dionysos veranstaltet wurden, ebenfalls eine große Rolle. Im Fernen Osten, in Indien, Japan und China, waren die Pantomimen zuerst religiöse Übungen, die aber bald zum Höhepunkt des Dramas wurden. Die seelische Erschütterung übertrug sich auf den Körper und gelangte so zu einer formalen Lösung. Formal im besten Sinne des Wortes, nicht mit dem negativen Beigeschmack, den das Wort sonst hat, wenn man es in Zusammenhang mit Kunst nennt, sondern die Form, hier der Körper, als reinster Ausdruck der Seele. Diesen schon vor minderten Jahren geprägten Grundsatz übernahm die französische Schule im 20. Jahrhundert und mit ihm die Kunst der Mime, das Schreiben mit dem Körper, die Darstellung durch Bewegungszeichen.

Im Okzident findet man die Pantomime bis zum 20. Jahrhundert nur selten als selbständige Kunstgattung. Sie dient als mitgestaltender Fakor in Dramen und Opern.

Im Mittelalter ist sie zuweilen in Mysterien und Passionsspielen zu finden. Ihre eigentliche Blüte erlebte sie aber in der Commedia dell’arte. Hier ist die Pantomime Ausdruck der Spielfreudigkeit, der Ausgelassenheit und des Humors, im wahrsten Sinne des Wortes Schauspiel. In Frankreich und Italien entstehen die in allen Ländern bekannten und beliebten Typen oder „Masken", die sich um das Paar Harlekin und Columbine reihen. In ganz Europa kennt man den Brighella, Truffaldino deshalb so berühmt geworden, weil er sie tief aus seinem Innersten schöpft. Er sagt: „Jede Geste muß atmen. Der Mime ist die Musik und gleichsam das Echo der Bewegung. Selbst bei unbewegter Haltung muß dem Körper eine bestimmte Atmosphäre entströmen.“

Der große ideelle Wert der Pantomime wurde Marceau bewußt, als er mit seiner Truppe die Welt bereiste. Überall verstand und reagierte das Publikum in gleicher Weise, da die Pantomime an die ursprünglichsten Instinkte und Gefühle des Menschen rührt und so eine Gemeinsamkeit jenseits aller Nationalität schafft. — Außer seinen Stilübungen, die eine individuelle Weiterführung von Decroux’ „Grammatik“ sind, schuf Marceau die Figur des „Straßenhelden" Bip, eine burleske poetische Gestalt unserer Zeit, in der sich jeder von uns wiedererkennen kann. Bip ist der moderne Clown in weißen Hosen, gestreiftem Leibchen und weiß geschminktem Gesicht. — Sein Mimodrama „Der Mantel“, nach der Novelle von Gogol, ist die erste sozialkritische Pantomime. Es ist die Geschichte des armen Beamten, der jahrelang arbeitet, um sich einen Mantel kaufen zu können. Als es soweit ist, wird er einen Abend lang zum Mittelpunkt einer Gesellschaft. Aber der Glanz dauert nicht lange. Sein Mantel wird gestohlen, und er ist arm wie zuvor. Marceau hat dieses Stück ausgewählt, da es die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zum Inhalt hat, nach der sich alle — und nicht zuletzt er selbst — in der Zeit nach dem Krieg sehnten. — Mit „Pierrot de Montmartre“ schuf er eine pariserische Commedia dell’arte, die aber alle Kennzeichen des modernen Lebens trägt. Wie in einem Kaleidoskop rast das farbenfreudige Leben am Montmartre zur Zeit Toulouse Lautrecs an der tragikomischen Gestalt des Pierrot vorbei, der sich in dieser fieberhaft-hektischen Welt herumschlägt.

In einem Gespräch mit Herbert Ihering spricht Marceau über die Wirkung von Komik und Tragik. Es gibt drei Arten von Komik: die der Form, die des Charakters und die der Situation. Ein Beispiel für die Komik der Form: Ein Hut allein ist nicht komisch. Aber der Versuch eines Mannes, seine Würde zu bewahren, indem er seinen Hut festhält, während er fällt, ist komisch. Also — Komik mit einer Ursache verbunden. Ebenfalls komisch sind schnelle, unerwartete Bewegungen oder solche, die in einem normalen Ablauf einen Bruch verursachen. Zum Beispiel Bip sieht längere Zeit aus einem Zugfenster, da fällt ihm ein Rußkörnchen ins Auge. — Die Situationskomik wird durch Kontrastwirkungen erzielt. Ein dicker und ein dünner Mann gehen nebeneinander. Jemand hebt einen schweren Koffer und glaubt, daß er leicht ist. Oder er tut das Gegenteil von dem, was das Publikum erwartet: Bip erhält eine Ohrfeige und drückt dem Schläger die Hand. — Charakterkomik wird dann erzielt, wenn zum Beispiel ein grober Mann versucht, zart zu sein. Auch ein komischer Charakter und eine tragische Situation wirken lächerlich: Ein Mann wartet auf seine Geliebte; endlich kommt sie, er zieht den Hut, da fällt ihm ein Ast auf den Kopf und er fällt um. — Wie man Tragik darstellt, hat Marceau in der Studie „Jugend, Reife, Alter, Tod“ gezeigt. Starrheit in der Stille, langsame Bewegungen. „La tragedie est longue et belle.“

Mit dem 20. Jahrhundert ist tatsächlich eine neue Ära für die Pantomime gekommen. Ich erinnere nur an den Stummfilm mit seiner Gebärdensprache und an Dramatiker wie Ionesco und Beckett, deren Dramen auf große Strecken hin aus stummem Spiel bestehen. Ein schon fast klassisch gewordenes Beispiel ist „Die kleine Stadt“ von Thornton Wilder, in der alle Requisiten gemimt werden müssen.

Warum aber ist die Pantomime eine eigenständige Kunst? Der Mime will das „Mehr“ ausdrücken, das, was hinter allen Worten verborgen ist. Deshalb ist der Mime auch ein schöpferischer Künstler, während der Schauspieler reproduziert. Und noch eines: Die „Sprache" des Mimen ist für jeden, gleichgültig welchem Volk und welcher Kulturstufe er angehört, verständlich. Und die Pantomime muß so eindeutig und aufrichtig sein, daß man nie das Gefühl hat, getäuscht worden zu sein. Und das empfindet man gerade in einer Zeit, in der man von Worten, Phrasen und. Slogans übersättigt ist, als wirklich zum Herzen gehende Kunst.

und den Dottore, die bis heute noch so beliebten Vorgänger der Clowns und Spaßmacher. In diesem Stadium hat die Pantomime ihren tieferen Sinn ganz und gar verloren.

Fl iese Äußerlichkeit haftet ihr auch noch im 19.Jahrhundert an, als die Tradition der Pantomime vom Clown in den Zirkus- und Music-Hall-Unterhaltungen fortgeführt wird. Seinen letzten großen Triumph feiert der Harlekin in England mit Harry Paine, dem Schöpfer der köstlichen Figur des „Punch“. Er spielte in den Proletariervierteln Londons, weshalb er auch wehmütig „der letzte Harlekin von Drury-Lane“ genannt wurde.

Um 1895 ist die Herrschaft des ewigen Spaßmachers mit seinen drolligen, akrobatischen Kunststücken zu Ende. Die alte europäische Tradition teilt sich in zwei Richtungen. Die eine ist Amerika. In New York wird die „Ecole Burlcsque Americaine“ gegründet, und in Hollywood erzielen Komiker wie Buster Keaton und Harold Lloyd Millionenerfolge. Einen Namen darf man in diesem Zusammenhang nicht vergessen: Charlie Chaplin. Rein äußerlich ist er einfach der klassische Clown, der jung und alt zum Lachen bringt. Aber ganz plötzlich mischt sich in dieses Lachen Rührung, denn dieser Clown, der sich mit den unmöglichsten Situationen herumschlägt, ist ein Mensch! Chaplins Clowns sind nicht nur komisch, sie leiden und empfinden. Gerade weil sie Außenseiter sind, fühlen sie doppelt stark und klagen in ihrer sanften und wehmütigen Art an. Diese warm und menschlich empfundenen, mit lächelnder Wehmut dargestellten Menschen, zeigen die neue Einstellung dem Leben gegenüber. In ihrer Art sind sie genauso sozialkritische Gestalten wie die der Naturalisten. Denn wie jede andere Kunstart auch, ist das von der Pantomime Dargestellte Ausdruck des Zeitgeistes.

In Europa übernimmt Frankreich die Weiterführung der Tradition der Pantomime und schafft eine totale Reformation auf diesem Gebiet. Das neue Programm steht einerseits unter dem Motto Gesellschaftskritik, anderseits ist es vom Expressionismus und seinen existentiellen Problemen beeinflußt. Während in Deutschland nur Rudolf von Laban, Harald Kreutzberg und Valeska Gert in ihrem Ausdruckstanz pantomimische Elemente zeigten, wurde sie in Frankreich von Grund auf neugestaltet.

Nach Jacques Copeau schuf sein Schüler Etienne Decroux eine Grammatik der Pantomime, wobei er an die Commedia dell’arte anknüpfte, wie die modernen Dichter an die Klassik. Die Pantomime wird vollends befreit von den akrobatischen Kunststücken, sie ist jetzt rein lyrisch. Decroux prägte den Ausdruck „mime pure“, die reine Körperschrift, ohne Hilfe irgendwelcher Requisiten. So ursprünglich seine Bewegungen auch aus- sehen mögen, sie sind mit mathematischer Genauigkeit berechnet. „Nur durch Genauigkeit im Kleinsten wird Schönheit erreicht.“ Er unterschied zwei Arten von Pantomime. Die „Mime statuaire“ oder „subjectiv“, die eine plastische Darstellung menschlicher Ausdrucksphänomene ist, also Ausdruck verschiedener Gefühle oder Handlungen. Die „mime objective“ ersetzt Gegenstände durch suggestive und exakte Reaktion des Körpers. Es ist das nichts anderes, als die schon oben erwähnten Stilübungen Marceaus, der mit dem Gegengewicht seines Körpers eine Imagination der Dinge schafft.

Der bei uns nur als Schauspieler bekannte Jean Louis Barrault kommt ebenfalls von der Pantomime her. Der von ihm zusammen mit Decroux gedrehte Film „Kinder des Olymps" machte die Kunst der Pantomime erst der breiten Öffentlichkeit zugänglich. Seine zwei Studien, „Krankheit, Sterben, Tod“ — ein typisches Thema der modernen Pantomime — und sein „homme- cheval“, erlangten ebenfalls Berühmtheit.

Der Vollender der Pantomime ist zweifelsohne Marcel Marceau. Er war ursprünglich Schauspieler und fand aus dem Gefühl heraus, daß Worte doch nicht das Letzte geben können, seine Erfüllung in der Pantomime. Vielleicht ist seine Kunst.

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